Spektrum.de: Herr Professor Esch, macht helfen glücklich?
Tobias Esch: Grundsätzlich ja. Einer der zentralen Wege zum Glück liegt im Altruismus, also darin, etwas zu tun ohne die Aussicht, etwas dafür zurückzubekommen. Ich erlebe Sinnhaftigkeit durch die Verbundenheit mit anderen Menschen, die auf meine Hilfe warten oder sogar auf sie angewiesen sind. So fördere ich nicht nur das Glück der anderen, sondern auch mein eigenes.
Dann müssten ja Menschen in helfenden Berufen, wie etwa Ärzte oder Psychotherapeuten, besonders glücklich sein?
Das könnte man meinen, denn alle Voraussetzungen zum Glücklichsein sind in diesen Berufen vorhanden. Deswegen üben sie auch seit jeher eine große Faszination auf uns aus. Leider läuft hier etwas verkehrt: Viele Kollegen verzweifeln am Unglück der anderen, sind überlastet, erleiden ein Burnout oder bekommen eine Depression. Auch Suchtprobleme und Suizide treten zum Beispiel statistisch gesehen unter Ärzten häufiger auf.
Was steckt dahinter?
Voraussetzung für ein Glücksgefühl beim Helfen ist, dass ich Emotionen zulasse. Dass ich in einen echten körperlichen und empathischen Kontakt mit jemandem trete. Dabei muss ich aber gleichzeitig ganz klar wissen, wo die Grenzen zwischen meinen Gefühlen und dem Leid des Gegenübers liegen. Laut einer Theorie passiert nun Folgendes: Wenn ein Patient oder Klient Hilfe erwartet, wird er von mir abhängig. Durch diese Abhängigkeit fällt mir die Abgrenzung zwischen mir selbst und meinem Gegenüber immer schwerer. Plötzlich bin ich nicht mehr nur empathisch, sondern leide mit. Hinzu kommt häufig beruflicher Stress, der erwiesenermaßen die Fähigkeit hemmt, Emotionen zu kontrollieren. Durch die hohe Arbeitslast habe ich im Berufsalltag außerdem zu wenig Raum für Selbstreflexion. So erlebe ich diesen eigentlich so erfüllenden Beruf zunehmend als Belastung.
Wie kann ich empathisch sein, ohne das Leid des anderen zu fühlen und selbst darunter zu leiden?
Diese Trennung kann man lernen. Ein guter Therapeut vermag es zum Beispiel, eine Beziehung zu ermöglichen, zu halten, aber auch zu beenden. Das bedeutet: Zunächst sollte der Helfende in einen echten, empathischen Dialog mit dem Patienten treten, eine Beziehung aufbauen und diese über die Therapiestunde oder über die Dauer der Behandlung aufrechterhalten. Anschließend muss er diese Beziehung aber genauso professionell wieder auflösen und den Patienten gehen lassen. Dabei können zum Beispiel körperliche Techniken helfen: Indem ich Gestik und Körperhaltung spiegele, kann ich mich ganz bewusst in den anderen hineinversetzen und Empathie ausdrücken. Anschließend kann ich genauso bewusst zu meiner eigenen Körperhaltung wechseln. So trete ich aus meiner Rolle hinaus und werde wieder zu mir selbst. Wenn ich diese Technik im Gespräch übe, lerne ich, spielerisch zwischen den beiden Ebenen zu wechseln. So kann ich im Kontakt mit jemandem sein, aber sein Leid trotzdem von mir abgrenzen.
Werde ich dann nicht zu einem Schauspieler?
Das könnte man annehmen. Aber die Neurowissenschaft zeigt uns, dass dabei kein Schauspiel, sondern wirklich Empathie stattfindet. Anhand bildgebender Verfahren können wir sehen, ob jemand tatsächlich emotional und nicht nur rational-kognitiv im Kontakt ist. Im oberen limbischen System beziehungsweise im präfrontalen Anteil des Gehirns sind bestimmte Areale unter anderem dafür zuständig, Emotionen wahrzunehmen und zu kontrollieren. Diese Hirnregionen sind aktiv, wenn ich bewusst reguliere, wie stark ich mitfühle, ohne dabei mitzuleiden.
Diese Hirnareale sind auch während einer Meditation aktiv. Es gibt dazu Experimente mit dem Franzosen Matthieu Richard, einem buddhistischen Mönch, der auch promovierter Naturwissenschaftler ist. Praktizierende Buddhisten wie er üben durch regelmäßige Meditation, empathisch zu sein, spürbar und nicht gespielt, dabei aber den Grad an Mitgefühl auch zu steuern. Matthieu Ricard kann tatsächlich die Aktivität in diesen präfrontalen Arealen, die mit Mitgefühl korrelieren, auf Zuruf hoch- oder wieder herunterfahren.
Stimmt die weit verbreitete Ansicht also nicht, dass ein Therapeut stets die Distanz zum Patienten wahren muss?
Sie stimmt so verkürzt nicht. Ein Behandler, der in der Therapie zu viele Emotionen entwickelt, braucht die Distanz, um sich zu schützen. Diesen Mechanismus nennen wir Cool-down und kennen ihn auch allgemein aus der Arbeitswelt. Er ist aber eigentlich eine Gegenreaktion auf Stress, eine Rückzugsstrategie, keine professionelle Technik – und der erste Schritt in Richtung Burnout. In einer erfolgreichen Therapie muss ich zunächst eine Beziehung und Begegnung ermöglichen. Die Distanz sollte erst beim Abschließen eines Kontakts beginnen, nicht als Schutzmechanismus währenddessen.
Bin ich also ein glücklicherer Therapeut, wenn ich meine Emotionen kontrollieren kann?
Dafür sollte ich tatsächlich lernen loszulassen, aber genauso auch, Emotionen zuzulassen. Beides ist wichtig. Denn für tiefes Glück brauche ich alle Facetten des Lebens, auch Unsicherheit, Anstrengung und Stress, auf die dann die Belohnung folgt: die Erkenntnis, dass ich eine Beziehung aushalten und auch wieder beenden kann.
Sind glücklichere Therapeuten dann auch die besseren Therapeuten?
So pauschal kann man das sicher nicht sagen. Aber Studien zeigen: Wenn der Therapeut oder Arzt sich nicht von den eigenen Gefühlen abkapselt, sondern sie bewusst wahrnimmt, ohne dabei überfordert zu sein, nimmt auch seine therapeutische Wirksamkeit zu. Der Patient wird gesünder, die Therapie effektiver und eventuell kürzer, der Erfolg langanhaltender.
Das Glück des Therapeuten färbt also auf den Patienten ab?
Das wäre das Bild, das einem in den Kopf kommt. Es gibt dazu erste Forschung, die wissenschaftlich die körperlichen und emotionalen Zustände des Arztes oder Therapeuten und des Patienten vergleicht. Wenn wir die Ergebnisse ernst nehmen, scheint das Glück tatsächlich abzufärben: Der Patient spürt, ob ein Therapeut sich von ihm abgrenzt oder bei ihm ist und sein Leid aushalten kann. Wenn der Therapeut Glück beziehungsweise Zufriedenheit ausstrahlt, wird er quasi zu einem Vorbild im Glücklichsein.
Welche Methoden können mir dabei helfen, meine Gefühle bewusster wahrzunehmen?
Alle Techniken, durch die ich mein Inneres wiederfinden und erleben kann. Zum Beispiel Meditation und Achtsamkeitsübungen, bei denen man lernt, sinnlich zu sein. Oder Sport, der meinen Körper und mein Sein spürbar werden lässt. Oder eine spirituelle Erfahrung, ein Buch, Film oder Vortrag, der mich inspiriert. Menschen, die ich liebe. Alles, was mich tief berührt, bringt mich wieder in Kontakt mit dem, was mir wirklich etwas bedeutet.
Kann ich so ein Burnout verhindern?
Es ist ein Weg, um wieder zu dem zurückzukehren, der ich wirklich bin. Für mich ist ein Burnout ein chronischer Unglückszustand. Er wird nicht unbedingt durch zu viel Stress ausgelöst – das zeigen auch unsere Untersuchungen an Studierenden meiner Hochschule: Die gestresstesten Studierenden sind nicht automatisch die unglücklichsten. Ein Burnout entsteht stattdessen, wenn ich das Gefühl habe, dass sich mein Selbst oder das, was mich ausmacht, im Außen nicht wiederfindet. Wenn mir Authentizität im Erleben fehlt. Menschen am Anfang des Medizinstudiums geben zum Beispiel häufig als Grund für ihre Berufswahl an, anderen helfen zu wollen. Fragt man sie am Ende der Studienzeit dann noch einmal, hat das Helfen als Motiv plötzlich an Bedeutung verloren – zu Gunsten von Gründen wie "Geld verdienen", "einen sicheren Arbeitsplatz haben" oder "der Forschung dienen". Sie entfremden sich also im Lauf des Studiums von dem, was ihnen eigentlich wichtig ist. Das ist ein gefährlicher Zustand! Mit der Zeit stauen gerade Menschen in helfenden Berufen viel an, das erlebt werden will. Wenn man ihnen die oben genannten Techniken an die Hand gibt und ihnen den Raum zur Selbstentfaltung lässt, kann ein Burnout im Idealfall quasi "über Nacht" auch wieder verschwinden.
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