Der aufmerksam verfolgte Abgang der Piraten-Geschäftsführerin Marina Weisband beleuchtet den Zustand einer Alternativ-Partei auf dem Weg zu Gewöhnlichkeit und drohender Bedeutungslosigkeit.
Berlin Sie wirkte wie ihre Partei: erfrischend anders. Gerne posierte die 24-jährige Psychologie-Studentin Marina Weisband als kesse, kluge, schöne Frau – und ärgerte sich hinterher, wenn sie auch wegen ihres Äußeren und nicht vor allem wegen ihrer politischen Inhalte als Geschäftsführerin der Piraten-Partei wahrgenommen wurde. Jetzt hat sie sich entschlossen, dem Vorstand den Rücken zu kehren. Ein Hinweis, dass den Piraten das Kentern droht, noch bevor sie die Bundespolitik entern konnten?
Tatsächlich sind die erforschten Wahlabsichten nicht mehr so rosig wie kurz nach der Berlin-Wahl, als die Piraten zwischen zehn und zwölf Prozent gehandelt wurden. Nach Berechnungen der Forschungsgruppe Wahlen und von Infratest dimap würde die Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre.
Hundert Tage Realpolitik im Berliner Abgeordnetenhaus haben den Zauber ihres Schlachtrufes "Klar zum Ändern!" verblassen lassen. "Der Anfängerbonus braucht sich allmählich auf", analysiert der Berliner Parteienforscher Carsten Koschmieder im Gespräch mit unserer Zeitung. Die Beliebtheit der Piraten habe damit zusammengehangen, dass sie in vielen Bereichen als Partei ohne Programm aufgetreten seien. Deshalb hätten sie als "Projektionsfläche für viele Wünsche" dienen können.
Wer mehr Datenschutz und mehr liberale Ansätze verfolge, habe sich bei ihnen genau so willkommen fühlen dürfen wie derjenige, der mehr linke und soziale Themen erwartete. Vor allem Wähler, die gegen die etablierten Parteien protestieren wollten, die allgemein unzufrieden seien, hätten mit den Piraten eine Partei vorgefunden, die "jung, neu und dynamisch" daherkomme, schildert Koschmieder.
Waren neu aufkommende Alternativ-Projekte in der Vergangenheit eher mit der "Dachlatte" und also der Androhung von Prügeln begleitet worden (so Hessens SPD vor der ersten Koalition mit den Grünen), so versuchten es die Etablierten dieses Mal eher mit einer Umarmungsstrategie. "Großen Respekt" bekundete Unionsfraktions-Geschäftsführer Peter Altmaier der Kollegin Weisband. Denn sie hätte ihren Schritt, sich auf ihre Diplom- statt Vorstandsarbeit zu konzentrieren "klug und ehrlich" begründet. Deshalb war sich der CDU-Politiker auch sicher, dass der Abtritt des Aushängeschildes die "Piratenpartei nicht schwächen" werde.
Diese Kommentierung kam so schmuseweich daher, als wären die Christdemokraten den Piraten bereits in herzlichem Koalieren verbunden. Es ließ abermals eine Macht-Strategie erahnen: Ein Parlament mit Piraten würde eine Mehrheit für Rot-Grün 2013 erschweren und ein Weiterregieren für Angela Merkel erleichtern. Zweites Kalkül: Der erdrutschartige Erfolg der Piraten in Berlin hatte den Etablierten die Augen geöffnet, dass die Piraten das Bedürfnis der schnell wachsenden Internet-Generation nach einer transparenten und konstruktiven Beteiligung an der Politik wie keine andere Organisation befriedigten und in Scharen in die Wahllokale lockten. Gleich 15 Piraten zogen auf Anhieb ins Abgeordnetenhaus. Sozusagen vom Netz ins Parlament. Altmaier entdeckte, wie andere Abgeordnete, seine Leidenschaft für soziale Netzwerke, für Twitter und Facebook und verbeugte sich vor der Weisheit der Menge, der "Schwarm-Intelligenz".
Die Piraten stehen derzeit (noch) für ein Phänomen: Die Wähler sorgen sich zwar um die Folgen der Eurokrise. Doch obwohl die Piraten dazu die Auskunft regelrecht verweigern, bleiben sie beliebt. "Es kommt bei einigen tatsächlich sympathisch an, wenn die Piraten offen und ehrlich sagen, dass sie für die Eurokrise keine Lösung haben", weiß Koschmieder. Diese Leute hätten das Gefühl, dass die anderen Parteien nur sagten, sie wüssten, was zu tun sei, es in Wirklichkeit aber auch nicht wüssten.
Sobald sich die Piraten programmatisch festlegten oder konkrete Gesetzentwürfe schrieben, drohten sie, viel Sympathie zu verlieren, sagt der Parteienforscher voraus. Dann werde klar: "Wer alles anders machen will, macht nicht automatisch alles besser." Auch in der Partei bestehe die Möglichkeit von zunehmenden Konflikten, etwa zwischen den nördlichen, eher linken und den südlichen, eher liberalen Landesverbänden, gibt Koschmieder zu bedenken.
Solche Auseinandersetzungen im Netz gab es auch schon. In der öffentlichen Wahrnehmung verschwanden sie hinter dem optimistischen und hübschen Gesicht von Marina Weisband, die wegen ihrer zeitweise strengen Zopffrisur auch als "Julia Timoschenko der Piratenpartei" tituliert wurde. Sie sagt, dass sie die Aufmerksamkeit um ihre Person nicht verstehen könne. Unter der Überschrift "Der Tag, an dem nichts wirklich passiert ist" beschrieb sie in ihrem Internet-Blog, dass ihre "persönliche mediale Präsenz" sie zu der Erkenntnis geführt habe, wie sehr ihre Absicht, ihr Studium mit einem Diplom abzuschließen, mit ihrem Parteiamt "zeitlich und physisch" nicht vereinbar sei.
Doch die Oberpiratin wäre nicht sie selbst, wenn sie nicht eine neue Ankündigung damit verknüpft hätte. Sie werde statt aus dem Vorstand künftig von der Basis aus aktiv bleiben und "gerne demonstrieren". Nach Einschätzung von Parteienforscher Koschmieder führt ihr Rückzug allerdings dazu, dass die Piraten in den Medien weniger vorkommen werden. Weisbands Argument, es sei gut, wenn sie weg sei, denn so werde wieder stärker über die Inhalte der Piraten berichtet, sieht Koschmieder kritisch: "Dadurch könnte freilich auch stärker auffallen, dass die Piraten kaum Inhalte haben."