© Matthes Seitz
Als der französische Philosoph und Psychiater Pierre Janet 1947 hochbetagt in Paris verstarb, hinterließ er ein umfangreiches Werk, das jedoch zunehmend in Vergessenheit geriet. Wie viele andere junge Gelehrte seiner Generation hatte er sich, angezogen von den berühmten Hypnoseexperimenten des Neurologen Jean-Martin Charcot an der Pariser Salpêtrière, in den 1880er Jahren zunächst dem Bereich der Psychopathologie zugewandt. In seinen frühen Arbeiten, insbesondere seiner Dissertation „L’automatisme psychologique“ (1889), suchte er aufsehenerregende psychopathologische Phänomene wie die Persönlichkeitsspaltung auf den Begriff zu bringen.
Die „psychische Dissoziation“, das „Unterbewusstsein“ und die „fixen Ideen“ zählten zum neuen Begriffsinventar, mit dem die hypnotischen Erscheinungen in der Sprache der Allgemeinpsychologie erfasst werden sollten. Auf demselben Feld trat jedoch bekanntlich kurz darauf die Freudsche Psychoanalyse auf den Plan, die mit der Traumdeutung und der Sexualtheorie andere Wege einschlug. Da auch Freud kurzzeitig bei Charcot studiert und einige von dessen Schriften übersetzt hatte, begriff man Janet meist in der Rolle des Pariser Konkurrenten des Wiener Arztes.
Wichtige historische Quelle ohne rhetorischen Glanz
Die beiden Männer waren sich allerdings vermutlich nie begegnet. Zu einer Auseinandersetzung kam es nur indirekt: 1913 trug Janet, der bereits einen prestigereichen Lehrstuhl am Collège de France innehatte, auf einem internationalen Kongress einen kritischen Bericht über die Psychoanalyse vor, in dem er seine eigene Methode der „psychologischen Analyse“ sorgsam von den mittlerweile mit dem Stigma des Pansexualismus behafteten Lehren Freuds abzugrenzen suchte.
Hundert Jahre später liest sich dieses Referat wie ein Sammelsurium der Kritiken, die zuweilen in sachlichem Ton, meist jedoch polemisch immer wieder gegen die Psychoanalyse vorgebracht worden sind: ihre Verallgemeinerung der Rolle der frühkindlichen Sexualität in der Entstehung der Neurosen, die Unklarheit ihrer Begriffe, ihr metaphysisch-spekulativer (und somit unwissenschaftlicher) Charakter sowie die Zweifelhaftigkeit ihrer therapeutischen Maßnahmen.
Dieser langwierige Text Janets, der wohl als wichtige historische Quelle, aber kaum als rhetorisches Glanzstück gelten kann, liegt nun in einer Auswahl seiner Schriften erstmals auf Deutsch vor. Als Beigaben wurden auch Teile der Diskussion sowie eine spätere Entgegnung des Psychoanalytikers Ernest Jones übersetzt. Neben diversen Briefen und Nachrufen im Anhang enthält der Band an Texten Janets den frühen „Fall Lucie“ (1886) sowie den Aufsatz „Das Unterbewusste“ (1907/08), „Die Psychologie des Glaubens und die Mystik“ (1936/37), „Die Psychologie menschlichen Handelns“ (1938) sowie die späte, eher karg geratene „Psychologische Autobiographie“ (1946).
Mystiker als „die ersten Psychologen des Glaubens“
Warum der Psychotherapeut Gerhard Heim, Vorsitzender der deutschen Pierre-Janet-Gesellschaft e.V., ausgerechnet diese Texte zusammengestellt hat, bleibt sein Geheimnis. Um als Einführung in das Werk eines im deutschsprachigen Raum heute weitgehend unbekannten Autors zu dienen, hätte es einer besseren Präsentation und auch einer sorgfältigeren Übersetzung und Edition bedurft.
Dass Janets Psychopathologie in einem gänzlich anderen Kontext steht als die Psychoanalyse, zeigt sich am deutlichsten in dem titelgebenden Aufsatz des Bandes, der auf Vorlesungen über die Psychologie des Glaubens aus den dreißiger Jahren zurückgeht. Hier findet vor allem die Frage breiten Raum, ob sich die Ekstasen der Mystiker restlos als krankhafte Erscheinungen medizinisch erklären lassen. Janet richtet sich gegen diese reduktionistische Sichtweise und verweist auf das intellektuelle und erkenntnistheoretische Potential der Mystik.
Ihm erscheinen die Mystiker als „die ersten Psychologen des Glaubens, die seine Entwicklung begriffen haben“, und somit als Vorläufer der von ihm skizzierten Religionspsychologie. Die intensive Beschäftigung mit der Mystik war immer eine frankophone Spezialität: von den „modernen Mystikerinnen“, deren dunkle Reden der Genfer Psychologe Théodore Flournoy gemeinsam mit dem Linguisten Ferdinand de Saussure untersuchte, über die Thesen von Jean Baruzi zu San Juan de la Cruz bis zu Michel de Certeaus erst jüngst ins Deutsche übertragenen religionswissenschaftlichen Studie über die „mystische Fabel“.
„Christusneurose“, „Kainkomplex“ und „Gottessyndrom“
Innerhalb dieser Tradition kommt Janet zweifellos ein besonderer Platz zu: Denn die Versuchsperson seiner zweibändigen Studie „De l’angoisse à l’extase“ (1926-28), Pauline Lair Lamotte (alias Madeleine Lebouc), konfrontierte den Therapeuten fortwährend mit der Frage, ob er es mit einer echten Mystikerin oder mit einer psychisch Kranken zu tun hatte. Nach zweiundzwanzig Jahren intensiver Beobachtung stellte Janet fest: „Ihr seltsames Leben, ihre Ausreißversuche, ihr religiöser Wahn, ihre Haltung und ihr Gang auf den Zehenspitzen, die an ihren Händen und Füßen wiederholt auftretenden Stigmata Christi und vor allem die starken Gefühle, die sie während ihrer ekstatischen Krisen und Angstanfälle spürte, und schließlich ihre verhältnismäßige Heilung am Ende ihres Lebens werfen in jedem einzelnen Punkt medizinische und psychologische Probleme von größtem Interesse auf.“
Wer sich mit dieser weitverzweigten Forschungstradition eingehender befassen möchte, ist gut beraten, ein neues Wörterbuch zu konsultieren (“Dictionnaire de psychologie et psychopathologie des religions“. Sous la direction de Stéphane Gumpper et Franklin Rausky. Éd. Bayard, Montrouge 2013). Hier werden auf 1300 Seiten all jene Referenzen zusammengetragen und referiert, mit denen sich Janet auseinandersetzte, wenn auch nicht gerade in einer sehr übersichtlichen und leserfreundlichen Form. Wer sich hier durchzuarbeiten versteht, wird neben zahlreichen kuriosen Einträgen - wie etwa zur „Christusneurose“, zum „Kainkomplex“ oder zum „Gottessyndrom“ - auch Janets schrittweisen Übergang von einer Religionspsychologie in Zeichen des medizinischen Positivismus zu einer allgemeinen Psychologie des Glaubens besser nachvollziehen können.
Pierre Janet: „Die Psychologie des Glaubens und die Mystik nebst anderen Schriften“. Hrsg. von Gerhard Heim. Aus dem Französischen von Nikolaus de Palézieux. Matthes Seitz Verlag, Berlin 2013 439 S., geb., 49,90 €.
Quelle: F.A.Z.
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Rezension: Pierre Janets „Die Psychologie des Glaubens und die Mystik nebst anderen Schriften“
Pierre Janet: Die Psychologie des Glaubens
Hinterm Kreuze steht der Psychologe
Von Andreas Mayer
Glaubensfragen in der Klinik: Ein Band mit Texten des französischen Psychiaters und Philosophen Pierre Janet.
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