Der promovierte Philosoph hilft ihnen dabei. Sein Arbeitsplatz sind die Cafés dieser Stadt, gerade sitzt er im „Kaffeeraum“ in Prenzlauer Berg. Sokrates empfing Ratsuchende ja auch nicht im Büro.
Im Hintergrund läuft leise Musik, eine Kaffeemaschine brummt, die nächsten Gäste sitzen ein paar Tische weiter. Perfekte Arbeitsbedingungen, findet Gutmann. Hier haben die Menschen das Gefühl, mitten im Leben und doch für sich zu sein, und diese Haltung braucht es fürs Philosophieren. Zu Gutmanns Klienten zählen so unterschiedliche Menschen wie ein Rentner, der endlich mit jemandem über seinen Lieblingsphilosophen Michel de Montaigne sprechen will, eine Frau, die vermutet, ihr Vater habe eine schlimme politische Vergangenheit, und ein Mann, der meint, dass er darüber nachdenken muss, wie er sein Leben richtig führen soll. Manchmal verlässt Gutmann mit ihnen auch das Café und spaziert durch den Volkspark Friedrichshain, weil sich beim Laufen zwangsläufig hilfreiche Perspektivwechsel ergeben.
Die Dienstleistungswelt hat für jedes Problem eine passende Beratungsleistung geschaffen. Bei Steuerproblemen hilft der Steuerberater, bei Eheproblemen der Eheberater und bei Fragen zum passenden Lidschatten der Stilberater. Aber wohin soll sich einer wenden, der drängende Fragen zum Leben hat? Im Altertum war es selbstverständlich, dass Philosophen diese Frage verhandelten. Sie taten das mit unterschiedlichen Resultaten: Epikureer sahen den Lustgewinn, Stoiker die Tugend als höchstes Gut. Später beanspruchte die Kirche die Deutungshoheit für sich, die Philosophie – wörtlich: die Liebe zur Weisheit – wurde in Bibliotheken und Seminarräume verbannt. Dabei bedürfen die Menschen ihrer heute dringend, schreibt der Philosophieprofessor Wilhelm Schmid. Jahrhundertelang, beginnend mit der Französischen Revolution, kämpfte der moderne Mensch für seine Befreiung. Nun ist er frei – und befindet sich im freien Fall. Traditionen gelten nichts mehr, vielen bietet auch die Religion nicht länger Orientierung. Wenigstens haben sich die Philosophen ihrer Aufgabe erinnert. 1981 gründete Gerd Achenbach in Köln die erste philosophische Praxis, heute gibt es in Deutschland etwa 80 von ihnen, ihr Begründer sagte, sie sollten das Denken in Bewegung setzen.
Wenn im Alltag einer etwas von seinen Gedanken mitteilt, kontert der andere meist mit Ratschlägen oder eigenen Gedanken, nur selten befragen die Menschen einander ausdauernd. Gutmann dagegen setzt Fragen gezielt ein, am liebsten will er für seine Klienten ein Sokrates sein. Der berühmte antike Fragesteller beschrieb seine Arbeit als Hebammenkunst. Er helfe Menschen, Gedanken auf die Welt zu bringen. Zu Gutmannn kommen derzeit zehn Gedankenschwangere, pro Stunde zahlen sie 40 Euro. Wie die meisten der Kollegen kann Gutmann davon nicht leben, zusätzlich berät er Unternehmen. Die philosophische Praxis ist jedoch das Herzstück seiner Arbeit.
Gutmann selbst hat ein gedankliches Gegenüber lange gefehlt. Geboren wurde er 1957, im selben Jahr wurde der Sputnik ins All geschossen. Unten auf der Erde war auch Gutmann zunächst auf einer festen Umlaufbahn unterwegs. Alles schien so einfach: Als Kleiner spielte er am liebsten mit Bauklötzen, also wurde er als Großer Ingenieur. Im Beruf herrschte maximale Klarheit: Tagtäglich, sagt Gutmann, sei er davon ausgegangen, dass es Wahrheit gebe und er sie in seinen Berechnungen finden könne. Im Inneren aber wuchs die Unklarheit. Vielleicht, sagt Gutmann, habe das mit dem frühen Tod des Vaters zu tun. „Damit war der liebe Gott für mich weg.“ Immer öfter blätterte Gutmann in einem philosophischen Wörterbuch, das er im Regal stehen hatte, 1985 packte er es in den Koffer und ging nach Berlin. Studierte Philosophie, promovierte über Sokrates, gründete 2000 die philosophische Praxis.
Einer seiner ersten Klienten war ein Arzt, der Artikel aus Fachzeitschriften mitbrachte und darüber diskutieren wollte, ob der Mensch einen freien Willen habe. In letzter Zeit kommen häufig Frauen mit einem unerfüllten Kinderwunsch zu Gutmann. Neulich zum Beispiel eine Frau, Anfang 40, sie wollte ein Kind, aber ihr langjähriger Partner nicht. Ein Dilemma, das zu größeren, moralischen Fragen Anlass gab. Schuldete der Partner ihr angesichts all der miteinander verbrachten Jahre nicht ein Entgegenkommen? Und dürfte sie es einem Kind ansonsten zumuten, einen unbekannten Samenspender zum Vater zu haben? Während Psychologen auf Emotionen setzen, setzt Gutmann auf den Geist. Er selbst sagt, dass er ein wenig der Rationalisierer sei. Mit der Frau etwa hat er alle möglichen Optionen erwogen, ernsthaft und vorurteilsfrei. Wie sie sich entschieden hat, will er nicht verraten, er sagt nur, dass sie „die bestmögliche Alternative für sich und alle Beteiligten“ gewählt habe.
Immer häufiger geht es bei Gutmann um solche ethischen Fragen. Ein Kernphysiker fürchtete, sich an den Menschen schuldig zu machen, und ein Geldhändler fragte sich, ob es in seiner Branche so etwas wie Wahrheit gebe. Weil der Mensch längst mehr kann, als er moralisch zu bewerten vermag, herrscht Nachholbedarf in Sachen Ethik: Mithilfe von Maschinen sind Ärzte in der Lage, das Leben von schwer kranken Menschen zu verlängern, aber dürfen sie diese auf Wunsch der Angehörigen ausschalten? Behinderungen können bereits im Mutterleib erkannt werden – darf man daraus seine Konsequenzen ziehen? Und selbst wenn einer nur gut und tugendhaft leben will, ist das nicht einfach. Da spendet man Geld und stellt fest, dass Entwicklungshilfe eher schadet als nutzt, schafft sich Energiesparlampen an und erfährt, dass sie in der Herstellung mehr Energie benötigen als herkömmliche Birnen. So widersprüchlich ist die Welt geworden, dass viele es vorziehen, sich auf ihr privates Glück zu konzentrieren. Ein Besuch in der Sauna, ein Wochenende in Paris – man hangelt sich von Auszeit zu Auszeit, doch können sich diese zu einem erfüllten Leben summieren? „Die Meisten“, schrieb Arthur Schopenhauer, „werden, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, dass sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert sein, zu sehn, dass das, was sie so ungeachtet und ungenossen vorübergehen ließen, (...) eben das war, in dessen Erwartung sie lebten.“
Wer ähnliche Befürchtungen hegt, ist bei Petra von Morstein gut aufgehoben. Die Philosophin empfängt zu Hause. Auf ihrem Tisch steht eine Lampe, die geformt ist wie ein Kerzenständer, ihre Kleidung ist eine Komposition in Schwarz und Fliederfarben. Wie sie arbeitet, erfährt man sofort am eigenen Leibe. Auf die Frage, warum die Philosophen die Lebenspraxis so lange vernachlässigt hätten, antwortet von Morstein: „Ich verdrehe die Frage einmal: Warum haben die Menschen übersehen, dass die Philosophen nie aufgehört haben, Lebenspraktiker zu sein? Warum haben sie Kant und Descartes wie akademisches Zubehör weggestellt?“
Genau das wird sie im Gespräch immer wieder tun: Fragen hinterfragen, umformulieren. Das Fundament ihrer Arbeit ist die Überzeugung, dass Denken und Sprache untrennbar verbunden sind oder, wie Heidegger es formulierte: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ Deshalb sprach sie mit der Klientin, die am Ende eines erfolgreichen Berufslebens den Respekt vermisste, den man ihr stets entgegengebracht hatte, über das Wort Respekt. Wörtlich übersetzt bedeutet es, dass man zurückblickt, also genau hinsieht und die Besonderheit eines Menschen erkennt. Und das fehlte der Frau mehr als öffentliche Respektsbezeugungen.
Von Morstein hat viele Jahre als Professorin in Kanada unterrichtet, bevor sie beschloss, dass die Philosophie wieder in die Welt entlassen werden müsste. 1987 gründete sie eine philosophische Praxis in Calgary. Seit 2007 lebt und praktiziert sie in Berlin-Zehlendorf. In dieser Gegend Berlins praktizieren besonders viele Psychologen, sie bieten Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie oder Psychoanalyse an, sind Freudianer, Kleinianer oder Jungianer. Solche Unterscheidungen gibt es in der Philosophenzunft nicht. Von Morstein ist weder Wittgensteinerin noch Kantianerin, zu ihrer Arbeit trägt jeder Philosoph etwas bei. Wenn ein Klient eine schlechte Gewohnheit ablegen will, ist das meist Aristoteles. In der „Nikomachischen Ethik“ schrieb er, dass jede Tugend durch Wiederholung eingeübt werden müsse. Jemand, der feige ist, muss also nur etliche Male so tun, als sei er tapfer und dementsprechend handeln, und er wird eines Tages wirklich tapfer sein.
Und noch einen Unterschied gibt es zwischen philosophischen Beratern und Psychotherapeuten. Eine Fallgeschichte verdeutlicht ihn. Eines Tages kam ein Mann zu von Morstein, er stellte sich mit Namen und einer psychiatrischen Diagnose vor: generalisierte Angststörung, behandlungsbedürftig. Von Morstein fragte nach, der Mann erzählte, sein Bruder habe Selbstmord begangen. Seitdem sei Angst sein Lebensgefühl. Der Mann kam monatelang zu der Philosophin, anfangs wöchentlich, dann seltener, schließlich, sagt sie, habe er „mit der Mündigkeit seines eigenen Verstandes“ erkannt, dass radikale Angst kein Krankheitszustand sein muss. Allein dadurch ging es ihm besser.
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Psychologie zum Welterklärungsmuster avanciert, das Handbuch der psychiatrischen Diagnosen, kurz DSM, wird immer umfangreicher, und vielleicht steckt in dieser Explosion von Krankheitsbildern ein Problem: Menschliches, Allzumenschliches wird pathologisiert. Gerade wenn es um Angst geht, nehmen Philosophen eine deutlich andere Haltung ein. Liest man Sören Kierkegaard, scheinen eher diejenigen ein Problem zu haben, die keine Angst empfinden. Angst, schrieb der Däne, entspringe dem Bewusstsein, dass alles möglich sei, und diese Erkenntnis sei ohne die Sicherheit von Religion und Tradition tatsächlich furchteinflößend. Ähnlich klingt es bei Karl Jaspers: „Eine noch nie dagewesene Lebensangst ist der unheimliche Begleiter des modernen Menschen.“ Höchste Zeit, dass sich die Philosophie wieder schützend an seine Seite gesellt.