Viele Kinder haben heute das Glück, sich zu kleinen Wolfgang Amadeus Mozarts, Boris Beckers oder Steve Jobs entwickeln zu dürfen. Bei Mädchen können die Zielvorgaben auch Julia Roberts, Steffi Graf oder Heidi Klum heißen. Von Geburt an werden sie von einem Kurs zum anderen gekarrt. Werden gefördert, trainiert und gestylt. Zeit für so etwas Unnützes wie Spielen und Freundschaften bleibt da natürlich kaum noch. Wozu auch? Was wirklich zählt ist Leistung! Endlich sind die gesellschaftlichen Spielregeln gerecht und transparent: Wir sind, was wir leisten. Leistung ist Selbstverwirklichung.
Die Verabsolutierung der Leistung bleibt nicht folgenlos. Sie kann zu einer zwanghaften Fehlhaltung führen: Zum Perfektionismus. Deswegen untersucht die psychologische Forschung zunehmend dieses Phänomen. Leider sind ihre Erkenntnisse einerseits oft in eine unverständliche akademische Geheimsprache gepresst, die seltsam blutleer und lebensfern bleibt. Andererseits wird der Begriff in populärer Ratgeberliteratur und im gesellschaftlichen Diskurs so verwässert, daß die Ratschläge zur Abhilfe wie eine Binsenweisheit anmuten. Der deutsche Psychotherapeut Nils Spitzer nennt den Perfektionismus gar einen „schillernden Grenzbegriff zwischen Wissenschaft und Pop-Psychologie“. Obwohl viele psychische Krankheiten in klinischen Studien einen statistischen Zusammenhang mit dem Perfektionismus zeigen, besonders Burn-out, Essstörungen, Depressionen und die Zwangsstörungen, gibt es nach wie vor keinen Konsens, was Perfektionismus überhaupt bedeutet.
Die wohl prominentesten Perfektionismus-Forscher unserer Tage, die kanadischen Psychologen Gordon L. Flett und Paul L. Hewitt, scheuen nicht davor zurück, den Perfektionismus als „in der westlichen Welt endemisch“ zu bezeichnen. Das bedeutet das permanent gehäufte Auftreten einer Krankheit in einer Region oder Population. Perfektionismus prägt den Zeitgeist, liegt unseren Wertvorstellungen zugrunde, dominiert unsere Köpfe. Fast niemand kann sich ihm ganz entziehen.
Einerseits sind sich alle einig, daß Perfektionismus nicht wirklich super ist, andererseits steht er heute auf der Liste der „attraktiven Laster“ sehr weit oben. Gleich nach „Mein größter Fehler ist, daß ich zu gutmütig bin und mir zu viel gefallen lasse“, kommt die selbstkritische Beichte „Ich habe einen Hang zum Perfektionismus“. Denn diese Schwäche finden wir verzeihlich, wenn nicht sogar ehrenhaft. Das lässt sich auch bei dem um sich greifenden Psycho-Phänomen „Burn-out“ gut beobachten: Viele Patienten bestellen sich heutzutage beim Psychiater diese Modediagnose, weil damit sichergestellt ist, dass sie ausgesprochen fleißige Zeitgenossen sind. Ein ähnliches Phänomen tritt bei der Selbstbeschreibung „Perfektionist“ auf: Bei diesem Begriff schwingt ein Nimbus von Ernsthaftigkeit, Ordentlichkeit, Fleiß und Verlässlichkeit mit, so daß man einen solchen Defekt gerne unumwunden zugibt.
Laster oder Tugend?
In einer Zeit, in der keiner mehr sagen kann, was wahre Perfektion – also Vollkommenheit – eigentlich bedeutet, streben wir sie doch scheinbar alle an. Natürlich ist es sinnvoll und erstrebenswert, Perfektes leisten zu wollen. Der Mechaniker soll das Auto fehlerlos reparieren, der Installateur den Wasserrohrbruch perfekt abdichten und der Chirurg möglichst ohne Kunstfehler operieren. Von Lehrern und Beamten erwarten wir zu recht, daß sie mehr tun als ihre Pflicht. Wer sich nicht um fehlerfreies Arbeiten bemüht, wird im Beruf schwerlich Wertschätzung erwarten dürfen. Der streitlustige Philosoph Peter Sloterdijk erklärt das Streben nach Selbstverbesserung bis zur Vervollkommnung zum menschlichen Wesenskern. Das ist nicht neu, das hat schon Aristoteles gewusst: Es geht darum, die Natur zur Entfaltung zu bringen.
Perfektionismus ist aber etwas völlig anderes als das Streben nach Perfektion. Ein Perfektionist strebt Perfektion nicht an, weil er sich an der Vollkommenheit erfreut, sondern weil es ihm um die damit verbundene Unangreifbarkeit geht. Perfektionismus ist ein Vermeidungsverhalten: Wer perfekt arbeitet, kann weder getadelt noch kann ihm gekündigt werden. Der Perfektionist will nicht in erster Linie die Natur zur Entfaltung bringen, sondern giert nach Sicherheit.
Die Sehnsucht nach Perfektion tut dem Menschen gut; durch Angst motiviert, verliert sie aber das richtige Maß. Nehmen wir etwa den großen deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche: Seine Angst vor Durchschnittlichkeit und Normalität brachte er in abfälligen Urteilen wie „Menschen ohne Sehnsucht“ oder „finale Spießer“ deutlich zum Ausdruck. Es sei die Aufgabe des Menschen, einen Typus hervorzubringen, der höher entwickelt ist als er selbst. Dieser „Übermensch“ habe, so Nietzsche, einen Überschuss an Lebenskraft und Willen zur Macht, was ihn zu besonderer Selbstbeherrschung und Selbstentfaltung befähige.
Maske der Unantastbarkeit
Der Perfektionist ist ein Kind unserer leistungsfixierten Zeit. In ihm baut sich ein innerer Druck aus Unzufriedenheit, Selbstverachtung und Verbitterung auf. Unter diesem leidet er und diesen gibt er auch an seine Umgebung weiter. Das Bessere ist für ihn der Feind des Guten: Nichts ist so gut, als dass es nicht noch besser sein könnte. So entwickelt sich der Perfektionist wider Willen zum Nörgler, notorischen Pessimisten und humorlosen Querulanten. Er weist ein Schwarz-Weiß-Denken auf, eine Alles-oder-Nichts-Mentalität: Entweder ist alles perfekt oder es taugt nichts. Ein Wesensmerkmal des Perfektionismus ist das krankhaft überzogene Leistungsdenken, bei dem nur zählt, wer Tadelloses, Bewundernswertes und Außergewöhnliches vorzuweisen hat.
Häufig ist Perfektionismus von einer irrationalen Angst vor Ablehnung begleitet, der Angst, nicht gut genug zu sein, den Ansprüchen nicht zu genügen, und von einer ängstlichen Besorgtheit um den eigenen Ruf. Der Perfektionist ist ein unsicherer Mensch. Er sehnt sich unbewusst nach einer bombensicheren Unantastbarkeit. Er hält sich ständig einen inneren Spiegel vor und überlegt, wie er vor sich und anderen dasteht, was er von sich halten darf. Perfektion ist bei ihm nur Mittel zum Zweck: Eine Fassade, die er aufrichtet, eine Maske, hinter der er sich versteckt.
Damit bringt sich der Perfektionist in eine Sisyphos-Situation, die oft im Burn-out endet. Er läuft einem unerreichbaren Ziel nach, denn man kann unmöglich allen gefallen. Dem Perfektionismus liegt eine unfreie, neurotische Angst vor der eigenen Fehlerhaftigkeit zugrunde, die die Seele erstarren lässt wie die Maus vor der Schlange. Oft wird er in dieser Erstarrung von anderen als rigide, halsstarrig, besserwisserisch und mitunter sogar als intolerant wahrgenommen. Von seiner Umgebung bekommt der Perfektionist häufig das Feedback, er sei überkritisch, mische sich ungefragt in das Leben anderer ein und versuche, ihnen das eigene „Ideal“ überzustülpen.
Das Glück der Unvollkommenheit
Die Auflösung dieses bedrohlich-zwanghaften Zustandes erfolgt schrittweise. An erster Stelle steht die Entlarvung des Perfektionismus als irrationales Bauchgefühl, als „inneres Dogma“. Durch das Bewusstmachen und Analysieren des Kopfes kommt es im nächsten Schritt zur Entmachtung des eigenen Leistungsdenkens – auch wenn es dem Zeitgeist widerspricht. Dann erfolgt das bewusste Annehmen der eigenen Unvollkommenheit mit dem Herzen. „Imperfektionstoleranz“ ist die Selbstannahme im Bewußtsein der eigenen Fehlerhaftigkeit, Mittelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit. Nur mit einer realistischen Selbsteinschätzung kann man gesunde Zielvorgaben formulieren und sich maskenlos in der Gesellschaft bewegen. Humor hilft am effektivsten, das Eis des Perfektionismus zum Schmelzen zu bringen. Schon Paul Watzlawick hat den „tierischen Ernst von psychologischen Abhandlungen“ gern augenzwinkernd auf die Schippe genommen. So gelangt man zu einer inneren Freiheit, die das Gegenstück zum Perfektionismus ist. Imperfektionstoleranz befreit von Ich-Sucht, Kontrollzwang, Anspruch auf Fehlerlosigkeit, Verbitterung und Fremdbeschuldigung. Innere Freiheit verleiht deshalb Unbeschwertheit und natürliche Autorität, sie macht flexibel und unabhängig.
Der Aufsatz ist die leicht gekürzte Fassung des Vorworts aus dem neuen Buch „Perfektionismus – Wenn das Soll zum Muss wird“ (Pattloch-Verlag, München) des Wiener Neurowissenschaftlers an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Raphael Bonelli. Bonelli hat an mehreren Universitäten in den USA, u.a. Harvard, geforscht und sich im Fach Neuropsychiatrie habilitiert. Er führt als Psychiater und Psychotherapeut eine eigene Praxis in Wien. Sein 2013 erschienenes Buch „Selber Schuld – Auswege aus seelischen Sackgassen“ (Pattloch, München) ist ein Bestseller.