Statt zum Arzt laufen die Menschen in die Meeraner Stadtverwaltung
Von Michael Stellner
erschienen am 16.01.2016
Meerane. Lothar Ungerer kann hinter eine ganze Menge Studiengänge einen Haken setzen. Verwaltungswissenschaften, Politikwissenschaft, Germanistik, Erziehungswissenschaft und pädagogische Psychologie. Wäre er nicht Professor und später Bürgermeister geworden, er hätte sich als Studienberater verdingen können. Augenmedizin hat das Stadtoberhaupt von Meerane nicht studiert. Das rächt sich jetzt.
Nichts ist in Deutschland gerade so begehrt wie ein Termin beim Augenarzt. Seitdem zu Jahresbeginn eine neue Ärztin im Haus an der Poststraße 23 eingezogen ist, stehen die Patienten Schlange. Und zwar nicht nur sprichwörtlich. In Reih und Glied versammeln sie sich allmorgendlich vor dem Eingang zur Praxis, am neuen Standort in der Poststraße 23. Das heißt, dort stehen die, die die Praxis finden. Was beileibe nicht alle sind. Früher war der Augenarzt in der Kirchgasse zu Hause. Der neue Ort ist ungewohnt, da muss man sich erst zurechtfinden.
Viele irren etwas ratlos auf dem Lörracher Platz umher und nehmen dann die erstbeste Tür, die ihnen in den Weg kommt. Meist ist das die zum Neuen Rathaus. Sie öffnet sich nämlich elektrisch, was enorm einladend wirken muss. Jedenfalls haben die Rathausmitarbeiter alle Hände voll zu tun, verirrte Bürger wieder wegzuschicken. Das kommt so häufig vor, dass die Angestellten jetzt einen Zettel an der Rathaustür befestigt haben, auf dem steht, dass sich die Praxis im Gebäude gleich gegenüber befindet. "Wer sich trotzdem nicht abbringen lässt", juxt Lothar Ungerer, "dem kann ich gerne auch am Auge herumfuhrwerken."
Gewisse Rathausbesucher hätten das sicher nötig. Erst vor einer Woche schmierte ein Unbekannter die Fassade voll, und zwar direkt unter dem neugierigen Blick der Überwachungskamera. Der Mann hatte es wahrscheinlich auch an den Augen.