Nomophobie: Die panische Angst vor dem Funkloch

Im Schnitt nutzen wir das Handy rund zwei Stunden am Tag. Wir zücken es 80 Mal, um einen Blick darauf zu werfen und tippen alle zwölf Minuten darauf herum. Ähnliches offenbaren die Daten einer amerikanischen Studie: Junge Erwachsene im Alter von 18 bis 24 Jahren schicken durchschnittlich 109 SMS am Tag raus und texten im Monat 3.200 Nachrichten in Chats und soziale Medien.

Für immer mehr Menschen wird das Mobiltelefon so wichtig, dass sie nicht mehr darauf verzichten können und Panik bekommen, wenn der Akku in die Knie geht. Sie leiden unter Nomophobie oder Fomophobie, Krankheiten, die es nach den offiziellen Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO noch gar nicht gibt.

So dicke sind wir mit dem Telefon

Die Telefonfunktion des Smartphones tritt in den Hintergrund. Es ist mobiles Büro, Gesundheitsberater per App, Navigationssystem und Terminkalender. 1,4 Millionen Apps werden allein im Playstore für Android-Handys angeboten und Milliarden Mal downgeloaded. Das Handy dient als Wecker, manche schlafen sogar mit ihm unter dem Kopfkissen oder auf ihrem Nachttisch ein. Wie weit die bloße Nutzung zur tieferen Handy-Bindung geführt hat und wie sehr ein kleines Gerät für manchen zum Beziehungspartner der anderen Art geworden ist, zeigt eine Studie aus den USA. Russell B. Clayton, Glenn Leshner und Anthony Almond heißen die Forscher, die genauer wissen wollten, wie eng die Bindung zwischen Mensch und Gerät ist. 

Sie luden iPhone-Nutzer ein, im Labor ein Worträtsel zu lösen. Dabei ermittelten die Wissenschaftler den Blutdruck und die Herzfrequenz der Versuchsteilnehmer. Im ersten Durchgang trugen die Probanden ihr Handy bei sich. Im zweiten legte man es etwas entfernt von ihnen ab, unter dem Vorwand, man wolle eine neue Blutdruckmanschette testen, die durch das Handy gestört werden könne. Nach kurzer Zeit rief man sie auf dem unerreichbar liegenden Telefon an. Das zeigte Wirkung: Der Blutdruck kletterte in die Höhe und auch der Puls beschleunigte sich.

Körperliches Leid durch Trennung vom elektronischen Freund

Zusätzlich zu den körperlichen Auswirkungen dokumentierten die Forscher psychische Veränderungen wie wachsende Ängstlichkeit und ein unwohles Gefühl, nur weil das kleine Endgerät nicht mehr in Reichweite war. Die Wissenschaftler sehen darin ein weiteres Indiz für eine Entwicklung, die die Psychologen und Suchtmediziner schon seit einiger Zeit beschäftigt: Immer mehr Menschen kommen nicht mehr los vom Handy. Sie haben das Gefühl, ständig mit der Welt verbunden sein zu müssen. Das kleine Gerät wird für sie zum erweiterten Selbst. Von ihm getrennt zu sein ist wie der vorübergehende Verlust einer festen Bindung.

Das beobachtet auch Psychotherapeut und Psychiater Prof. Markus Banger. "Wir sehen uns heute in einer Gesellschaft, die immer mehr an der Nabelschnur des Handys hängt". Er berichtet von Menschen, die mit drei Mobiltelefonen in der LVR-Klinik in Bonn Hilfe suchen, weil sie nicht mehr klar kommen. Der Druck, ständig erreichbar zu sein, wird übermächtig, ständig senden und empfangen zu müssen, bekommt krankhafte Züge. Damit teilt Banger das, was auch die amerikanischen Forscher in ihrer Untersuchung herausgefunden haben: Vom Smartphone getrennt zu sein bedeutet für immer mehr Menschen Stress. Manche fühlen sich weniger allein, wenn sie immer mit der Welt verbunden sind, schreiben die Wissenschaftler aus den USA.

So nennt man die neuen "Krankheiten"

Kunstwörter wie Nomophobie und Fomophobie beschreiben eine neue psychische Last, die vor allem junge Menschen zunehmend auf den Schultern liegt. Nomophobie steht dabei für "No-Mobile-Phone-Phobia" – der Angst vor dem Funkloch, dem abreißenden Draht in die Welt, einem schwachen Handyempfang oder der Sorge, das Gerät zu verlieren. "Ähnlich wie einem Trinker der fehlende Alkohol, wird der leere Akku zur Katastrophe", sagt der Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen und Psychotherapie der LVR-Klinik Bonn. Das zeigt sich nicht nur in Irritation und Unwohlsein, sondern kann ähnlich wie bei der Spielsucht auch körperliche Folgen nach sich ziehen und in Nervosität oder Angstzuständen enden.

Zwei Drittel der Briten sollen unter dieser Angst leiden, so legt es eine Studie des britischen Forschungsinstituts OnePoll offen. Dazu wurden im Jahr 2012 tausend Briten befragt und einen deutlichen Anstieg der Fälle beobachtet. Bei einigen geht die Angst vor dem Nicht-mehr-erreichbar-sein so weit, dass sie ein zweites Handy mit sich herumtragen: 41 Prozent der befragten Briten tun das. In Deutschland hat nach Informationen des IT-Verbandes Bitkom jeder zehnte Jugendliche zwei oder mehr Geräte.

Die Bindung zum Smartphone ist so groß, dass einige sogar Phantom-Vibrationen spüren. Sie nehmen den Vibrationsalarm ihres stumm geschalteten Mobiltelefons beim Eintreffen einer neuer Nachrichten wahr, obwohl gar keine neue Nachricht eingegangen ist. In der Zeitung "Psychology Today" berichtet die amerikanische Wissenschaftlerin Prof. Sarah Coyne: Annähernd 20 Prozent der Smartphone-Nutzer im Alter zwischen 18 und 34 Jahren berichteten, dass sie ihr Handy benutzen, während sie Sex haben.

Während diese Menschen ausgesprochen fixiert auf das Gerät sind, ist es bei der Fomophobie, die Andreas Gohlke, Vorsitzender des Fachverbandes Medienabhängigkeit e.V., in Jugendtreffs häufiger beobachtet, die Angst, ausgeschlossen zu sein. "Fear of missing out" kürzt der Befriff #fomo ab. "Die Jugendlichen haben dann das Gefühl, sie müssten alles mitbekommen, checken darum permanent ihre Accounts in den Sozialen Netzwerken und erleben es als Katastrophe, wenn sie irgendwo nicht dabei sein können.

 

Das Problem der Grenze

Schwierig wird es, die Grenze zu ziehen zwischen dem normalen Hantieren mit dem Handy und einem grenzwertigen Verhalten. Zu sehr haben sich Arbeitswelt und Privatleben vermischt. So erledigt jeder zweite berufstätige Smartphone-Besitzer mit seinem Gerät während privater Treffen mit Familie oder Freunden berufliche Dinge, hat der Digitalverband Bitkom herausgefunden. Zu sehr auch ist das kleine Endgerät zum mobilen Büro geworden. 28 Prozent arbeiten dabei ab und zu dienstliche Aufgaben ab, 20 Prozent machen das sogar regelmäßig. Dadurch verschwinden nicht nur für die Arbeitswütigen die Grenzen, sondern auch für Kinder oder Jugendliche, die solchen Umgang überall um sich herum sehen.

Andreas Gohlke kennt das aus seinem Arbeitsfeld. In Konzernen, in denen er als Coach im Einsatz ist, beklagen Ausbilder, dass die Auszubildenden in ihrer Pause im Frühstücksraum sitzen und auf das Handy starren, statt miteinander zu reden. "Doch dann sieht man, dass es die Manager im Unternehmen genauso machen und beim Frühstück ihre dienstlichen Mails checken, sagt Diplom-Sozialarbeiter und Mediensucht-Experten Gohlke. Was Jugendliche freiwillig tun, wird in vielen Unternehmen mittlerweile vorausgesetzt: die Dauerverfügbarkeit.

Klare Zeichen für ein Zuviel

Die aber hat zumindest mit Blick auf die Gesundheit ihre Grenze da, wo das, was im Handy steht wichtiger wird, als das, was gerade passiert, sagt Mediensuchtexperte Prof. Banger. Konkret heißt das: Wenn es in Freizeit und Urlaub wichtiger ist, einen Stromanschluss zu suchen, als etwas zu unternehmen, und der Alltag durch den Übergebrauch des Handys leidet, Menschen ihrer Arbeit nicht mehr konzentriert nachgehen können, virtuelle Kontakte wichtiger sind als reale, dann ist das gesunde Maß überschritten. Auch dauernder Stress mit der Familie oder Probleme mit dem Arbeitgeber, die durch die Dauernutzung entstehen, können ein Hinweis darauf sein, dass sich der Gebrauch des Smartphones der eigenen Kontrolle entzogen hat.

Experten beobachten solch neue krankhafte Phänomene nicht nur, sondern müssen sie auch behandeln. Dabei stoßen sie aber vor ein Problem, denn offiziell gibt es weder Nomophobie, noch Fomophobie. Sie sind weder im weltweiten von der WHO herausgegebenen Katalog für psychische Störungen, dem ICD 10, aufgeführt, noch im amerikanischen Äquivalent, DSM 5. Damit kann in der Praxis deren Behandlung eigentlich nicht über die Krankenkassen abgerechnet werden. Um den Betroffenen Hilfe zu geben, benutzen Kliniken und auf Mediensüchte spezialisierte Psychologen und Psychiater eine Krücke. Denn häufig gehen mit den neuartigen Phänomenen andere Erkrankungen einher. Diese zu therapieren, ist möglich und ebenso nötig. Im Zuge dessen kann also auch Medienjunkies geholfen werden.

Handy-Diät und andere Hilfen

Im ersten Schritt empfiehlt Prof. Markus Banger den Betroffenen eine "Handy-Diät". Damit meint er keinen totalen Verzicht, sondern eine reflektierte Nutzung, die auch klare Auszeiten beinhaltet. Helfen kann dabei die App "Menthal", die es kostenlos für Android-Handys gibt. Entwickelt haben das Miniprogramm Informatiker und Psychologen der Universität Bonn. Wer es installiert, kann damit etwa sehen, wie viel Zeit er täglich mit dem Telefon verbringt und welche Anwendungen er am häufigsten verwendet. Auf diese Art und Weise kann man versuchen, überstrapaziertes Nutzungsverhalten wieder ins Lot zu bringen.

Zeigt das keine Wirkung, helfen Fachleute in Suchtkliniken und Psychoambulanzen, Jugendberatungseinrichtungen oder Selbsthilfegruppen. Die ausfindig zu machen, erleichtert zum Beispiel eine Suche über die Website des Fachverbandes Medienabhängigkeit.

 



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