Noch immer rätseln Forscher darüber, warum der Mensch als einziger Primat in …

Bei manchen Menschen werden nur die Wangen, die Ohren oder der Hals rot, bei anderen glüht das gesamte Gesicht. Es kann sich so anfühlen, als laufe die Röte wie eine Welle über den Kopf. Man kann aus Scham, Schuldgefühl, Freude oder Ärger erröten, vor anderen oder allein, nur kontrollieren kann man es nicht. Charles Darwin beschrieb das Erröten in «Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (1872)» als «die eigentümlichste und menschlichste aller Gefühlsäusserungen». Tatsächlich ist es der einzige Gesichtsausdruck, der nicht bei anderen Primaten als dem Menschen vorkommt.

Kurz nach Darwin setzte die Pathologisierung des Phänomens ein: Der Verhaltensforscher Wladimir Bechterew verwendete 1897 den Begriff Erythrophobie als Angst vor dem Erröten. Psychoanalytiker lieferten abenteuerliche Erklärungsversuche: Dass das Schämen hinter dem Erröten seinen Grund in «Lebensgeheimnissen» wie Impotenz oder Homosexualität habe oder eine verdrängte Erektion sei, gehörte noch zu den harmloseren Hypothesen. Der Wiener Nervenarzt Ernst Bien war der Auffassung, dass einige seiner männlichen Patienten mit dem Erröten «auf eine neurotische Art und Weise» die Menstruation erlebten. In anderen Fällen dagegen, so spekulierte Bien 1930, stehe es in Zusammenhang mit Nekrophilie oder verdrängtem Kannibalismus.

Heute haben sich die Bewertungen entschärft, aber noch immer ist das Phänomen schwer zu erklären. Wenn jemand errötet, dehnen sich die Blutgefässe auf Befehl des Sympathikusnervs aus. Im Gesicht zeigt sich das Erröten besonders deutlich, auch weil die Gefässe dort besonders dicht unter der Hautoberfläche liegen. Blutdruck und Herzschlag steigen, das Stresshormon Adrenalin wird ausgeschüttet. Wenn der Errötende sich dann für seine glühenden Wangen schämt, wird alles nur schlimmer. Wie genau es zur Erweiterung der feinen Blutgefässe kommt, ist noch nicht geklärt. Sicher ist aber: Da die Signale vom vegetativen Nervensystem kommen, unterliegen sie nicht der willentlichen Kontrolle.

Betablocker oder Hautcremen

Das Erröten kann also auch nicht vorgetäuscht werden. Obwohl eigentlich eine normale Sache, kann es ein ­Problem werden, wenn es sich verselbstständigt, zwanghaft wird. Der Betroffene kann sich nicht mehr konzentrieren. Seine Gedanken kreisen um die Röte und um das, was andere darüber denken könnten, ob sie ihn womöglich für absonderlich, schwach oder unsicher halten. Um von seinem Gesicht abzulenken, mag er den Kopf senken oder sein Gesicht verbergen. Der schlimmste Fall tritt ein, wenn das Gegenüber die leuchtende Gesichtsfarbe kommentiert oder sogar über das Rotwerden lacht.

Die Angst, rot zu werden, lässt den Errötenden dann Situationen meiden, in denen es offensichtlich werden kann; viele isolieren sich. Besonders schwer Betroffene nehmen Beruhigungsmittel oder Betablocker, tragen dicke Hautcremen auf, kühlen sich das Gesicht oft mit Wasser oder trinken in Gesellschaft Rotwein, weil ein geröteter Teint dann ganz normal wirkt. Corine Dijk und Peter J. de Jong von der Universität Amsterdam schätzen, dass etwa vier Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens eine mehr oder weniger ausgeprägte Errötensangst entwickeln.

Was das ganze Drama auslöst, ist umstritten. Der US-Neurowissenschaftler Mark R. Leary sieht das Erröten nicht unbedingt als Zeichen von Schuldgefühlen: «Es ist eher eine Peinlichkeit. Aber der umfassendere Grund ist, dass jemand unerwünscht soziale Aufmerksamkeit erhält.» Ob sie positiv oder negativ ist, sei dabei gar nicht entscheidend. Wenn er im Scheinwerferlicht stehe und beobachtet werde, könne jeder Mensch erröten, nur zeige es sich deutlicher bei Hellhäutigen, meint Leary.

Andere halten für plausibler, dass das Erröten eine Signal- und Entschuldigungsfunktion für das Übertreten bestimmter gesellschaftlicher Grenzen hat. Wer errötet, gibt demnach zu, dass er zu weit gegangen ist, und bittet zugleich um Verzeihung.

Verhaltenstherapie kann helfen

Darauf deutet eine Studie der Forscher Dijk und De Jong hin. Sie zeigten Probanden Fotos von errötenden Menschen und solchen mit normaler Gesichtsfarbe. Dazu gab es Berichte über angebliche Übeltaten und Missgeschicke dieser Personen – Dinge wie Unterwäsche stehlen, im Aufzug pupsen oder mit einem Parfümregal kollidieren. Es zeigte sich, dass die Errötenden durchweg positiver beurteilt wurden, sie wirkten vertrauenswürdiger und sympathischer. Offenbar hatten die Probanden mehr Verständnis für Fehltritte, wenn die Gesichtsfarbe des Schuldigen dessen echte Beschämung preisgab.

Samia Härtling, die das Erröten am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der TU Dresden erforscht, hat jedoch Zweifel, ob dem Erröten wirklich so eine grundlegende Sozialfunktion zukommt. «Bei allen Ansätzen stellt sich die Frage, ob sie evolu­tionshistorisch überhaupt Sinn machen, da der Urmensch von dunkler Hautfarbe war, was eine sichtbare Wahrnehmung des Errötens erschwert», sagt sie.

Schwer Geplagte können immerhin lernen, anders mit dem Erröten umzugehen. In einer Verhaltenstherapie können sie zum Beispiel mit der Kamera beobachten, wie sie mit ihrem roten Kopf umgehen. Manche Patienten sind überrascht, dass ihr Erröten gar nicht so auffällt, wie sie es sich vorgestellt haben.

Manche Patienten mit sehr starkem Leidensdruck entscheiden sich sogar für eine Operation. Dabei werden zwei Sympathikus-Nervenstränge im Oberkörper durchtrennt oder abgeklemmt, sodass sich die Blutgefässe nicht mehr füllen können. Härtling rät dazu, sich diesen Schritt sehr gut zu überlegen: Sehr häufig ziehe die Operation als Nebenwirkung übermässiges Schwitzen an Rumpf, Beinen und im Gesicht nach sich. Die Wissenschaftlerin empfiehlt, unbedingt immer erst alle psychotherapeutischen Möglichkeiten auszuschöpfen.

Vielleicht würde es schon helfen, das Erröten anders zu verstehen. Zweifellos bringt es in bestimmten Situationen Sympathiepunkte ein. Glühende Wangen können attraktiv machen. Nicht umsonst ist das Röten der Wangen bei vielen Frauen so beliebt. Von Diana Vreeland, der legendären Chefredaktorin der amerikanischen «Vogue», sagt man, dass sie sogar ihre Ohrläppchen mit Rouge versah. Und nicht ganz zufällig wirbt ein Hersteller farbiger Dessous mit dem Namen Blush mit dem Slogan «Erröten Sie wie noch nie». Ein Mensch, der errötet, zeigt, dass ihn die Dinge um ihn herum nicht kaltlassen, dass er beeindruckbar und einfühlsam ist. Und das ist ja eigentlich gar nicht so schlecht.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 17.05.2015, 17:32 Uhr)

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