Nicht vergessen

Noch sind seine Gedanken klar, aber er kriegt die Krankheit nicht mehr aus dem Kopf. Seit Generationen schon rafft diese verdammte Zumutung mit dem Namen Alzheimer seine Familie dahin. Nun rückt das Unheil noch näher zu ihn, zu Wilmar Piedrahuita. Wie ein Fluch.

Kürzlich ist auch sein Vater Alberto gestorben. Vor fünf Jahren begann seine Verwirrung, nachher wurde er hilflos wie ein Baby. «Es ging so schnell», sagt Wilmar Piedrahuita. In den vergangenen Monaten hat das Ungeheuer mit dem Kürzel E 280 A bereits seine Tanten Dilma und Ofelia verschlungen und seinen Onkel Leonardo. Zuvor seinen Opa und andere Verwandte in diesen Dörfern, den Dörfern des Vergessens.

Sie alle waren erst Ende vierzig, als das Gedächtnis versagte, und Anfang fünfzig, als das Leben aus ihren ausgezehrten Körpern verschwand. Manche ihrer Gehirne lagern jetzt in Kühltruhen und Schränken bei Forschern in Medellín.

Im Haus um die Ecke macht Wilmar Piedrahuitas Onkel Gustavo nur noch unkontrollierte Bewegungen und unverständliche Geräusche. Piedrahuita und seine Geschwister haben Angst, dass es ihnen irgendwann ähnlich ergehen wird. «Wir denken alle daran», sagt er.

Wilmar Piedrahuita sitzt in einem weissen Hemd am Steuer eines gelben Kleinwagens, auf dem kurz geschnittenen Haar trägt er eine Mütze. Aus tiefen Wolken fällt feiner Regen. Der Taxifahrer Piedrahuita ist 33 Jahre alt, ein schlanker Mann mit scharf geschnittenem Gesicht. Verheiratet, zwei Kinder, jugendlicher Typ. Doch diese Plage verfolgt ihn und seine Sippe, deshalb warten sie auf diese Studie der Forscher und vielleicht auf ein Medikament.

La Bobera, die Blödheit

Dass gerade hier geforscht wird, ist völlig klar, denn so weit man weiss, ist die erbliche Form von Alzheimer nirgendwo anders so verbreitet wie im kolumbianischen Nordwesten. Und in den Gehirnen der Lebenden und Toten dieser schönen, tragischen Gegend könnte die Lösung für die Welt zu finden sein, Heilung für so viele vielleicht.

Don Matías liegt gut 2000 Meter hoch in den Bergen, eineinhalb Autostunden und viele Kurven von der Metropole Medellín entfernt. Die Leute aus dieser Region Antioquia gelten als fleissig, freundlich und stolz, viele Bewohner in der Provinz sind einfache Bauern. Auf saftigen Wiesen grasen schwarz-weisse Kühe, in Fabriken nähen schlecht bezahlte Arbeiter Textilien zusammen. Auch Guerillas, Paramilitärs und Drogenbarone fanden hier gute Bedingungen für ihre Geschäfte. Aber was die Gegend wirklich besonders macht, ist die Krankheit, welche die Menschen schon auslöscht, bevor sie sterben.

Früher dachten sie, das Leiden sei ein Werk der Hexerei. Oder ganz einfach La Bobera, die Blödheit. Schau, wieder so ein Dorfdepp. Wer kannte schon in der kolumbianischen Peripherie den neurodegenerativen Schrecken namens Morbus Alzheimer, den einst der deutsche Pathologe und Psychiater Alois Alzheimer entdeckt hatte?

Kaum jemand. Bis dann vor 30 Jahren ein damals junger Mediziner namens Francisco Lopera des Weges kam. Seither stehen diese Gemeinden unter Beobachtung. Sie sollen dabei helfen, die Erkundung der Erkrankung voranzutreiben, bis weit über diese sanfte Landschaft hinaus. Sie sollen jene retten, die noch zu retten sind.

Francisco Lopera empfängt 60 Kilometer südlich in seinem kleinen Büro der Universität von Antioquia im Zentrum von Medellín. Er hat wache Augen, graue Haare und ist für Gespräche nur nach umständlicher Anmeldung zu haben. In Dr. Loperas Testreihe geht es um eine Menge Geld und viele Geheimnisse. Ausserdem gibt es internationale Konkurrenz.

Der Neurologe leitet hinter Glastüren die neurowissenschaftliche Abteilung der Fakultät und einen Feldversuch, der das Rätsel entschlüsseln soll. Er hat das Phänomen in seiner Heimat entdeckt.

Der Medizinstudent Lopera war Anfang der Achtzigerjahre Praktikant in dem Ort Belmira, als ihm ein noch relativ junger Einheimischer mit auffällig verwirrtem Verhalten begegnete. «Er konnte seinen Namen nicht mehr schreiben und keine Kreise oder Vierecke zeichnen», erzählt Lopera. Er hat das Papier mit den krakligen Zeichen eingescannt und auf seinem Computer gespeichert.

Die Diagnose ergab ein Frühstadium von Alzheimer, im Alter von erst 47 Jahren. Wenige Jahre danach starb der Kranke und nachher auch dessen Bruder, der anfangs noch mühelos Kreuze und Quadrate skizziert hatte. Später traf es die Kinder. Lopera nannte die Familie C 1.

Er fing an, Stammbäume der Betroffenen zu erstellen. Er durchforstete Archive und las Geburtsurkunden. Er traf in diesem Gebiet auf immer mehr Namen und Daten von Menschen, die unter dieser Form von Alzheimer litten, und stellte zweierlei fest: Erstens zeigten manche von ihnen die ersten Symptome bereits zwischen ihrem 40. und 50. Lebensjahr, obwohl sich die geläufigere Version von Alzheimer gewöhnlich von Mitte sechzig an spürbar entwickelt. Zweitens liefen die Wurzeln in der Vergangenheit bei spanischen Einwanderern zusammen.

Isolierte Clans

Aus dem Erbgut der Immigranten stammt ein Gendefekt auf dem Chromosom 14. In Fachkreisen heisst dies E 280 A – oder «mutación paisa», Paisa-Mutation. Paisas werden die Menschen aus Medellín und dem Umland genannt.

In ihren Kreisen konnte sich der fatale Schaden so verbreiten, weil untereinander verschwägerte Clans enorm viele Kinder bekamen und lange Zeit weitgehend isoliert lebten. Das macht zum Beispiel den Unterschied aus zu genetisch bedingten Alzheimer-Formen in Island oder auch in Deutschland, wo die meisten Eltern nur wenige Kinder haben und es nur selten vorkommt, dass Cousins und Cousinen einander heiraten.

In diesem Revier Kolumbiens aber trägt mindestens jeder fünfte von bis zu 5000 Nachkommen der Siedler aus Europa das verhängnisvolle Gen in sich. Francisco Lopera und sein Mitarbeiter konnten die Verästelungen bis ins Jahr 1745 zurückverfolgen. 25 Grossfamilien teilen wahrscheinlich die Herkunft und das Risiko. C 1 bis C 25.

«Das ist ein sehr interessantes Fenster, um Alzheimer zu studieren», sagt Francisco Lopera. Und dann sagt er noch: «Wir hoffen auf eine Fährte.» Die kolumbianische Spur könnte einen globalen Ausweg weisen, weltweit sind 44 Millionen Menschen von Alzheimer befallen. Bis 2050 rechnet die Vereinigung Alzheimer Disease International mit der dreifachen Zahl, also mit mehr als 130 Millionen Patienten.

Das grosse Experiment

Die Kosten für die Gesundheitssysteme werden auf 600 Milliarden Dollar geschätzt. In Deutschland gibt es 1,3 Millionen Demenzkranke, und eine Umfrage ergab, dass Deutsche dieses Schicksal neben Krebs besonders fürchten. Die meisten Fälle treten sporadisch auf, also ohne Erbfaktor. Die kolumbianische Variante dagegen liegt im Blut. Schon der Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez schrieb in seinem Roman «Hundert Jahre Einsamkeit» aus dem mythischen Macondo über «die Epidemie des Vergessens», die bei ihm allerdings von der «Pest der Schlaflosigkeit» ausgelöst wurde.

«Wenn der Kranke sich einmal an seinen wachenden Zustand gewöhnt hatte, begannen zunächst die Erinnerungen der Kindheit aus seinem Gedächtnis zu verschwinden und danach sein Name und der ihn umgebenden Dinge und schliesslich die Identität der Menschen und sogar das Bewusstsein von der eigenen Person, bis er in einer Art Idiotie ohne Vergangenheit versank.» Ihre Umgebung statteten sie mit Schildern aus, auf denen «Kuh» stand, «Tisch» oder «Banane».

Francisco Lopera kennt die Textstelle. Das berühmte Buch entsprang vor allem der Fantasie des Autors, seinem magischen Realismus. Aber der 86-jährige García Márquez ist inzwischen wohl selbst der Demenz verfallen.

In einem Raum, der zwei Türen neben Loperas Büro liegt, nimmt Andrés Villegas mit weissen Latexhandschuhen tropfende Hirnhälften aus Edelstahlschüsseln und schneidet mit einem langen Messer Stücke von der Masse. Fall Nummer 99, eine Frau, 2004 an Alzheimer verstorben. «Schauen Sie, die Furchen und der geschrumpfte Hippocampus, typisch», sagt Villegas. Nebenan zeigt eine Kollegin auf ihrem Bildschirm Alzheimer-Mäuse in kleinen Schwimmbecken, die das trockene Podest nicht mehr finden. Sie haben vergessen, wo es steht. Im Erdgeschoss werten Psychologen die Gedächtnisprüfung kranker Menschen aus.

Und nun beginnt das grosse Experiment. «Kolumbien im Zentrum der vorklinischen Alzheimer-Forschung», schreibt das renommierte Fachmagazin «Lancet». Ungefähr 300 Kandidatinnen und Kandidaten aus den gefährdeten Familien bekommen fünf Jahre lang entweder die Arznei Crenezumab verabreicht oder ein Placebo. Was von beiden es ist, das erfahren die Testpersonen nicht. Auch wissen nur die Ärzte, ob die Probanden die Anlagen für Alzheimer tatsächlich in sich tragen. Die Bedingung ist: Sie müssen noch frei von Symptomen sein. Denn darum geht es hier.

Bei ausgebrochener AlzheimerKrankheit versagt bisher jede Gegenwehr, auch Crenezumab; ein angegriffenes Gehirn ist kaum mehr zu heilen. «Wir versuchen es jetzt bei noch Gesunden», sagt Francisco Lopera. Bei Gesunden, die ohne Behandlung krank werden könnten.

Denn die Krankheit entsteht unsichtbar, aber nachweisbar, lange bevor Anzeichen wie Vergesslichkeit auftauchen und irreparable Schäden signalisieren. Crenezumab soll Amyloid-Proteine unschädlich machen, ehe sie Hirnzellen zerstören. Den Feind im Keim ersticken.

Dörfer des Vergessens

Die bisher oft noch so stumpfe Waffe Crenezumab könnte sich bei solch frühzeitigem Einsatz als scharf erweisen. Und Kolumbien ist das ideale Labor, weil man hier künftige Opfer kennt.

«Wir haben das erste Mal die Chance zu sehen, was passiert, wenn die Neuronen noch intakt sind», sagt der Neuropathologe Professor Markus Glatzel von der Hamburger Uniklinik, der mit den Kolumbianern forscht. «Wenn das Antikörperpräparat einen Effekt zeigt, dann wäre das ein Durchbruch.»

Die Studie kostet 100 Millionen Dollar, finanziert wird sie von der US-Gesundheitsbehörde und dem Banner-Institut in Arizona. Lange Zeit hatte Francisco Lopera kaum Interessenten gefunden, bis Fachkreise plötzlich hellhörig wurden und sich die «New York Times» für die Geschichte interessierte. Nach langem Zögern unterstützen die Amerikaner das Projekt, trotz ethischer Bedenken.

Denn die Frage ist ja: Darf auch Unverdächtigen dieses Crenezumab verabreicht werden? Und dürfen Träger des Alzheimer-Gens mit Placebos abgespeist werden, um zu sehen, wie im Kontrast dazu das Mittel bei anderen wirkt?

Für Gustavo Piedrahuita kommt die Hypothese einer möglichen Vorsorge so oder so zu spät. Er ist ein weiterer Onkel von Wilmar Piedrahuita und seinen Cousins, den Alzheimer unheilbar erwischt hat.

Der Arzt Francisco Lopera erzählt, Angehörige hätten ihm gesagt, das Schlechte an Alzheimer sei, dass man es noch nicht heilen könne. Und das Gute, dass es nicht ansteckend sei. Zum Glück sei nur ein Teil der Familie betroffen. So könne der andere Teil die Kranken pflegen in den Dörfern des Vergessens.
(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 31.12.2014, 11:38 Uhr)

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