Neurologie: Bei mehr als 150 Kontakten macht das Gehirn dicht – Nachrichten …

Feierabend am Mittleren Ring in München. Wer zu langsam fährt – also nur 10 bis 15 über den erlaubten 60 Stundenkilometer – wird gnadenlos mit Lichthupe und dichtem Auffahren genötigt, auf das Gaspedal zu drücken.

Foto: ® Weissbach/teamwork/www.teamwork-press.de
"Ach, das müssen die Jugendlichen unter sich ausmachen" - so lautet eine der bequemen Begründungen, wenn wir wegsehen. In der Gesellschaft gehen Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft verloren

Zur selben Zeit, ein U-Bahn-Zugang in München-Maxvorstadt: Genau da, wo die Menschen von der Rolltreppe nach oben ins Freie drängeln, parkt regelmäßig ein Auto und versperrt den Weg.

Aber nicht nur Autofahrer sind so: Die Besitzer eines Gartengrills in einer Wochenendsiedlung stellen das rauchende Feuer gern weit weg vom eigenen Häuschen vor die Terrasse des Nachbarn.

Wenn jemand in Not ist, wird gegafft anstatt geholfen. Ein gefundenes Portemonnaie wird nicht mehr abgegeben, sondern der Geldscheine beraubt und dann weggeworfen.

Es gibt unzählige Bespiele dieser Art. In unserer Gesellschaft macht sich die Rücksichtslosigkeit breit. Ursache dafür ist aus Sicht der Hirnforschung unter anderem eine abnehmende Fähigkeit von „Theory of Mind“ in der Bevölkerung.


Entwicklung ab vier Jahren

Theory of Mind – zu Deutsch: Theorie des Geistes – ist die Fähigkeit, Gefühle, Situationen, Denkweisen und Wahrnehmungen anderer Personen einzuordnen und ihre Verhaltensweisen vorherzusagen.

Diese Fähigkeit ist nicht von Anfang an vorhanden. Sie beginnt sich erst mit etwa vier Jahren zu entwickeln. In diesem Alter entdecken wir, dass wir so etwas wie ein Bewusstsein haben. Und damit wird uns klar, dass dies auch für andere Menschen gilt. Wir fangen an, uns in die Lage von anderen Menschen zu versetzen und uns zu überlegen, wie die Welt wohl aus deren Perspektive aussehen mag.

Das zeigt eine psychologische Untersuchung: Zwei Personen, nennen wir sie Sally und Anne, stehen vor einem roten und einem blauen Schrank. Sally legt einen Ball in den roten Schrank und geht weg. Nun nimmt Anne den Ball und legt ihn in den blauen Schrank. Sally kommt zurück. Wenn nun ein Kind untersucht werden soll, ob es schon eine Theory of Mind besitzt, wird ihm die folgende Frage gestellt: „Wo sucht Sally den Ball?“


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US-Präsident Barack Obama verbindet Politik mit großer Ausstrahlung. Psychologen fanden heraus, dass er in seinen Reden mehr Metaphern als andere Politiker benutzt. Das macht es den Zuhörern einfacher, sich mitreißen zu lassen.


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Prinzessin Diana strahlt während einer Veranstaltung in Leicester im Jahr 1997. Die "Königin der Herzen" galt als charismatische Persönlichkeit.


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Auch der Dalai Lama ist für seine große, warmherzige Ausstrahlung bekannt.


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Marilyn Monroe hat mit ihren Charisma Millionen Menschen rund um den Globus in ihren Bann gezogen.


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Studien belegen, dass etwa ein Drittel der charismatischen Führungsqualitäten angeboren sind: Der ehemalige US-Präsident John F. Kennedy konnte mit seiner Ausstrahlung einen Raum erhellen.


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Magische Ausstrahlung: Mahatma Gandhi steckte seine Mitmenschen mit seiner großen positiven Energie an.


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Wäre Apple ohne das Charisma von Steve Jobs genauso erfolgreich? Wohl eher nicht.

Antwortet das Kind „im roten Schrank“, dann hat es eine Theory of Mind entwickelt, die unter Fachleuten kurz als ToM bezeichnet wird. Das Kind kann sich in die Lage von Sally versetzen, die davon ausgeht, dass der Ball noch da liegt, wo sie ihn hingetan hat. Kinder unter etwa vier Jahren allerdings werden höchstwahrscheinlich „im blauen Schrank“ antworten. Sie denken: Da liegt der Ball und deswegen muss man ihn da suchen. Diese Antwort zeigt, dass dieses Kind sich noch nicht in die Lage anderer hinein versetzen kann.

Für diese Fähigkeit ist insbesondere der vorderer und seitlicher Bereich des Frontalhirns zuständig, der bei Theory-of-Mind-Aufgaben eine Zunahme neuronaler Aktivität zeigt. Es ist der Bereich unseres Gehirns, in dem strategische Ziele geplant und vorausgedacht werden.

„Was ToM ansonsten leistet, wird besonders deutlich, wenn diese grundlegend wichtige Leistung außer Kraft gesetzt wird. Beispiele sind der kollektive Verlust ‚menschlichen’ Handelns in der jüngeren Geschichte und das kriminelle Verhalten einzelner“, erklärt auch Hans Förstl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Münchner Klinikum rechts der Isar in seinem im Jahr 2006 erschienenen Fachbuch „Theory of Mind“.

Überlebenswichtige Werte

ToM ist seit jeher für das soziale Miteinander wichtig. Bereits in einer Stammesgruppe war es wichtig zu wissen, wie die Hierarchie aufgebaut ist, wer Freund und wer Feind ist und dass eine Hand die andere wäscht. Allianzen zu bilden und zu kooperieren gehört zu den vielen Fähigkeiten, die das Überleben in einer Gemeinschaft sichern. Dazu benötigt man die Theory of Mind: Sie hilft einzuschätzen, wie der andere wohl reagieren wird, wenn man ihn um Hilfe bittet.

Die Fähigkeiten „Hilfsbereitschaft“, „Mitgefühl“ oder „Rücksichtnahme“ sind folglich nicht primär höfliche, sondern vielmehr überlebenswichtige Werte einer Gesellschaft. „Und genau diese Eigenschaften sind heutzutage in Gefahr“, erklärt Familientherapeutin Nele Kreuzer aus München. „Mitgefühl ist kein anzustrebender Wert mehr. Die Hilfsbereitschaft lässt nach. Wir befinden uns auf dem Egotrend.“

Um die Fähigkeit der Theory of Mind zu entwickeln, muss man nämlich dazu in der Lage sein, eine Außenperspektive zu sich selbst einzunehmen. Das gelingt, indem man die Innenperspektive des anderen zur Kenntnis nimmt. Das ist Trainingssache.


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Hänsel und Gretel zeigen in Grimms Märchen, wie stark ihr Zusammenhalt ist. Gretel schubst die böse Hexe in den Ofen und befreit danach ihren Bruder.


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Penélope Cruz, 36, und ihre drei Jahre jüngere Schwester Mónica (r.). Ein Unterschied von zwei bis drei Jahren stärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit.


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Fast wie Zwillinge: Vitali, 39, und Wladimir Klitschko, 34, haben beide Sport studiert, promoviert und verdienen ihr Geld als Boxer. Vitali gilt als der große besorgte Bruder, schließlich ist er auch dreifacher Vater.


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Bei der biblischen Geschichte von Kain und Abel (links) geht es um Rivalität zwischen Brüdern. Aus Neid erschlägt der ältere Kain seinen Bruder Abel.


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Enge Verbundenheit zwischen Klaus und Erika Mann.


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Léonard von Galen und Lea Gerber sind keine Geschwister, sondern ein Liebespaar. Sie hat einen kleinen Bruder, er eine ältere Schwester, das macht ihre Beziehung stabil.

Die Übung beginnt im Idealfall schon früh. „Wer unter Geschwistern aufwächst oder schon früh in einer Kindergruppe untergebracht wird, der merkt schnell, dass andere Kinder anders ticken und macht sich darüber Gedanken. Doch wenn Eltern nur ein Kind haben, das der Hoffnungsträger der Familie ist, dann dreht sich oftmals alles um das Kind. Es hat nicht mehr das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, sondern denkt, es sei der Nabel der Welt“, sagt Nele Kreuzer.

Aus Hirnforschungssicht bedeutet dies: Solche Kinder haben keinen Lernanreiz, die Innenperspektive anderer Menschen zu ergründen, um ihre Verhaltensweisen vorherzusagen. Ihnen reicht es, einen Wunsch zu äußern, damit er erfüllt wird. Im Gehirn entwickeln sich aber nur die Bereiche, die auch gefordert werden.

Optimiertes Gehirn

Ein weiterer Grund für die zunehmende Rücksichtslosigkeit ist die steigende Anzahl von Menschen um einen herum. Es gibt Theorien, nach denen die Größe des Frontalhirns mit der Gruppenstärke der Säugetiere korreliert. „Die sich innerhalb der Gruppe herausbildenden Verhaltensformen mögen die Herausbildung besonders jenes frontalen Gehirnlappens befördert haben, der schon bei den Primaten im Vergleich zum restlichen Hirn übermäßig stark ausgebildet ist“, schreiben der Dichter Raoul Schrott und der Neuropsychologe Arthur Jacobs in ihrem Buch „Gehirn und Gedicht“ (2011). „Auf dieser Rechnung aufbauend, kann man von der Größe unseres Gehirnlappens auf die Gruppengröße schließen. Unser Gehirn ist demnach auf einen sozialen Verband von maximal 150 Leuten optimiert.“

Und wenn wir jetzt überlegen, wie vielen Menschen wir tagtäglich begegnen? Das Gegenüber wird damit zu einem Störfaktor. Wenn zu viele Menschen um einen herum schwirren, wird ein einzelner Mensch kaum mehr wahrgenommen. Dies erkennt man daran, dass wir wohl bei einem Waldspaziergang jeden entgegenkommenden Wanderer begrüßen, nicht aber mitten auf einer belebten Einkaufsstraße. Insofern ist die zunehmende Rücksichtslosigkeit eine natürliche Reaktion und ein Schutzmechanismus des Gehirns.

Rücksicht kann gelernt werden

Trotzdem ist es nicht sinnvoll, die Fähigkeit der "Theory of Mind" brach liegen zu lassen oder gar nicht erst zu entwickeln. Denn auch wenn wir oftmals mehr Menschen um uns herum haben als wir verkraften können, so sind wir doch immer wieder auch in kleinere Gruppenverbände eingegliedert. „Eltern haben hier eine große Verantwortung. Sie sollten ihre Bedürfnisse weniger denen ihrer Kinder unterordnen. Denn nur so lernt der Nachwuchs, auch auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen“, erklärt Familienpsychologin Kreuzer.

Wichtig sind auch Gespräche, in denen die Sicht auf andere Menschen gelenkt wird. Lesen und Vorlesen sind hilfreich: „Was meinst du, warum verhält sich das Kind in dem Buch so?“ Auch sollten sich Eltern bei Streitigkeiten unter Kindern nicht direkt in höherer Instanz einmischen. Dahinter steht oftmals die Angst, dem Kind würde Unrecht getan und der Wille es zu beschützen. Doch Menschen lernen nur in der Auseinandersetzung mit anderen auch sich selbst kennen. Und dies gilt lebenslang.

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