"Multitasking ist die Vernichtung von Kreativität"

Jeder Mensch ist von Natur aus kreativ. Davon ist der Hirnforscher Professor Ernst Pöppel absolut überzeugt. Man müsse seiner Kreativität einfach nur die Möglichkeit geben, sich zu entfalten. Doch manche Menschen haben zum Entdecken ihrer Potenziale einfach zu wenig Raum in ihrem Alltag. Wie sich Kreativität dennoch gezielt fördern lässt, erklärt Pöppel in diesem Interview.

Dabei scheut er sich nicht, auch über sehr persönliche Dinge und seine eigene Kreativität zu sprechen. Der renommierte Forscher und Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bestseller überrascht mit dem Eingeständnis, dass er eigentlich gar nicht Wissenschaftler werden wollte. Lieber wäre er als Marineoffizier über die Weltmeere gefahren. Doch der junge Seemann Ernst Pöppel wurde bei der Bundesmarine fristlos gefeuert. Die Alternative war für ihn ein Studium der Psychologie und Biologie.

Die Welt: Wie hat sich die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge an den Universitäten auf die Kreativität der Studierenden ausgewirkt?

Ernst Pöppel: Die Bachelor- und Masterstudiengänge haben zu einer Verschulung und Verdichtung des Studiums geführt. Dadurch haben die Studenten nicht mehr die Möglichkeit, in andere Fachbereiche hineinzuschnuppern. Doch gerade über den Tellerrand hinauszuschauen und zufällig mit neuen Eindrücken konfrontiert zu werden fördert die Kreativität. Die Studierenden werden nur noch auf Examina dressiert. Jede Kreativität wird dabei vernichtet. Es ist eine Katastrophe.

Die Welt: Sie sind auch Dozent an der Peking University. Wie steht es um die Kreativität der chinesischen Studenten?

Pöppel: Interessanterweise stelle ich in China genau die entgegengesetzte Entwicklung fest. Dort wurde noch vor gut zehn Jahren in erster Linie Wissen gepaukt. Doch jetzt werden die Studierenden angehalten, selber zu denken. Da entsteht ein gewaltiger Kreativitätsschub. Das wird die Welt verändern.

Die Welt: Sind Ihre Studenten in München heute spürbar weniger kreativ als früher?

Pöppel: Ich beobachte, dass die Freiheit der Studierenden, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen als denen im Lehrplan, in den vergangenen Jahren immer weiter eingeengt worden ist. Unsere Hochschulen verhindern Kreativität.

Die Welt: Hätte man diese Fehlentwicklung nicht ahnen können, als man den Bologna-Prozess beschloss?

Pöppel: Das Problem bei politischen Entscheidungen ist ja, dass da meist nur monokausal gedacht wird. Man wollte die Studierenden früher für den Arbeitsmarkt verfügbar machen. Das war das Ziel von Bologna. An die Förderung von Kreativität hat man überhaupt nicht gedacht.

Welt am Sonntag: Was bedeutet das mittelfristig für den Wissenschafts- und Industriestandort Deutschland?

Pöppel: Ich bin da trotz allem einigermaßen optimistisch, denn es gibt immer zehn Prozent der Studierenden, die allen Hindernissen trotzen und sich ihre Kreativität nicht zerstören lassen. Die brechen irgendwie aus den Zwängen aus, gehen etwa zum Studium ins Ausland oder nehmen noch ein zweites Studium auf. Es gibt in Deutschland ja eine lange Tradition, dass intelligente Menschen auferlegten Zwängen zu entkommen versuchen. Wir sind ja zur Kreativität geboren und ich glaube an die Selbstreparatur von sozialen Systemen.

Die Welt: Ist es denn schon so weit, dass wir jungen Menschen empfehlen sollten, in China zu studieren?

Pöppel: Ja, warum nicht? Wenn Sie über den Campus der Peking University gehen, dann hören Sie dort praktisch alle Sprachen der Welt. Auch als Deutscher kann man dort wunderbar studieren. Doch man darf hier nicht schwarz-weiß malen. Auch das deutsche Hochschulsystem hat nach wie vor seine Stärken. Wir Deutschen gelten in Asien noch immer als "deep thinker". Ich bin davon überzeugt, dass von einer langfristigen Kooperation in Forschung und Lehre beide Seiten, also China und Deutschland, wunderbar profitieren könnten.

Die Welt: Die Veränderungen in China belegen also, dass Kreativität planbar ist?

Pöppel: China hat seit mehr als 2500 Jahren ein sehr striktes Lehrsystem. Viel Wissen zu vermitteln hatte dort immer einen hohen Stellenwert. Doch jetzt hat man erkannt, dass man überdies Freiheit einräumen muss, damit sich kreative Potenziale entfalten können. Wenn man die Voraussetzungen für Wissen und Freiheit schafft, fördert man also vorhersehbar Kreativität.

Die Welt: Ist Kreativität für autoritäre Systeme nicht immer auch ein Risiko?

Pöppel: Studierende und Professoren in China sehen Kreativität in der Tat nicht nur als etwas Positives. Ein Student hat mir mal gesagt: "Kreative Prozesse finden immer nur innerhalb eines Systems statt; sie können einen vorgegebenen Rahmen gar nicht sprengen." Da wird also implizit mitgedacht, dass es politisch vorgegebene Randbedingungen gibt. Doch zweifelsohne ist es so, dass ein sehr großes Maß an Kreativität Systeme destabilisieren kann. Dafür gibt es viele historische Beispiele.

Die Welt: Doch die Kreativität von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern tut politisch keinem weh?

Pöppel: Die kreativen Prozesse von Physikern können durchaus weitreichende politische und gesellschaftliche Auswirkungen haben. Nehmen wir nur das berühmte Beispiel der Entdeckung der Kernspaltung. Jeder kreative Prozess kann so oder so, zum Guten wie zum Schlechten, verwendet werden. Aus Furcht vor schlimmen Anwendungen die Forschung verbieten zu wollen wäre indes keine gute Idee.

Die Welt: Sie sind Hirnforscher. Was ist darüber bekannt, wie Kreativität im Gehirn zustande kommt? Und wie ist Kreativität überhaupt definiert?

Pöppel: Es ist sehr schwierig, eine allgemeingültige Definition für Kreativität anzugeben. Jeder weiß ja irgendwo, was das ist. Der Begriff ist also kernprägnant, aber randunscharf. Um Prozesse im Gehirn zu verstehen, kann man Prozesse der Evolution heranziehen. Die Evolution ist der kreativste Prozess, den die Natur auf diesem Planeten hervorgebracht hat. Dass durch Mutation und Selektion etwas Neues entsteht, ist überaus kreativ. Kreativität ist das Grundprinzip der Evolution. Es werden zufällige Veränderungen ausgewählt. Das ist im Gehirn ganz genauso. In den Hirnen ist Wissen gespeichert. Je größer der Vorrat an Wissen ist, umso größer ist die Chance, dass daraus etwas Neues entstehen kann. Die eigentliche kreative Leistung des Gehirns besteht darin, permanent eine informatische Müllbeseitigung vorzunehmen. Es wird in unseren Köpfen sehr viel Sinnloses erzeugt. Wenn die Beseitigung dieses Datenmülls nicht richtig funktioniert, führt das zu Störungen – etwa der Schizophrenie. Durch den kreativen Prozess entsteht nur das, was eine Möglichkeit hat, sich in dieser Welt zu bestätigen.

Die Welt: Kreativ sein ist nicht einfach nur innovativ sein?

Pöppel: Genau. Innovation ist die Akzeptanz dessen, was mir eingefallen ist, durch andere. Meine Kreativität ist jedoch immer meine eigene Kreativität. Jemand anders mag genau das Gleiche gedacht haben wie ich, gleichwohl erlebe ich den Prozess in mir als Erfolgserlebnis. Der kreative Prozess ist kein expliziter. Es denkt permanent in mir selber. Und es denkt umso mehr, je intensiver ich mich mit einer Sache beschäftige. Und dann fällt mir plötzlich etwas ein, weil es in mir gedacht hat. Das kann unter der Dusche oder beim Spazierengehen sein. Emotionen spielen dabei eine große Rolle. Kreativität kann sich durch Sprache vermitteln, aber auch durch Bilder, Musik oder auch beim Kochen. Damit man Kreativität wirklich erleben kann, darf man sich nicht zu sehr antreiben, man muss es in sich denken lassen. Man dürfe die Lösung nicht erzwingen, hat einmal der Physiker Werner Heisenberg gesagt. Das Beste ist immer, über eine Sache erst einmal zu schlafen. Viele Dinge fallen einem dann zum Beispiel beim morgendlichen Träumen ein, weil es in einem weitergedacht hat. Da wird uns ein unglaublicher Reichtum beschert, an dem wir uns einfach bedienen können. Der kreative Mensch ist jemand, der es versteht, glückliche Zufälle auszunutzen.

Die Welt: Was können Sie einem Menschen raten, der kreativer werden möchte?

Pöppel: Mehr Sport und weniger Multitasking. Man kann nur kreativ sein, wenn man sich konzentriert auf eine Sache einlässt. Multitasking ist hingegen die Vernichtung von Kreativität. Wer kreativ sein möchte, benötigt ein eigenes Zeitmanagement. Dazu gehören etwa ausreichende Pausen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, sich selber zu trauen. Man muss also eine gewisse Ichstärke haben. Kreativität lässt sich nicht von außen erzwingen. Das bedeutet aber nicht, dass man sich den Anregungen von anderen verschließen sollte. Überaus wichtig ist auch eine ausreichende körperliche Aktivität. Wir sind nicht einfach intellektuelle Maschinen, bei denen es nur darauf ankommt, was in unseren Köpfen passiert. Kreativität ist auch ein leiblicher Prozess und Sport ist ein ganz wichtiger Faktor.

Die Welt: Sind kreative Menschen unangepasst?

Pöppel: Kreative müssen akzeptieren, dass sie anecken. Das gilt für Künstler, Wissenschaftler oder Unternehmer in gleicher Weise. Das Neue wird oft als störend empfunden, zumindest wird es von den anderen nicht erwartet. Das erzeugt Widerstände. Es gibt eine permanente Spannung zwischen dem Alten und dem Neuen. Doch wir brauchen beides – die Kontinuität und ihre Brechung, weil sich ja die Umwelt beständig ändert. Deshalb ist der Mensch von Natur aus ein adaptives System. Und Kreativität ist eine Voraussetzung für Anpassungsfähigkeit.

Die Welt: In Ihrem neuen Buch "Von Natur aus kreativ" schreiben Sie, dass manche Erkenntnis der Wissenschaft von der Kunst vorweggenommen worden ist. Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Pöppel: Trotz der vermeintlichen Fraktionierung der Gesellschaft in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medien und Kunst bin ich davon überzeugt, dass eine große Einheit besteht. Künstler haben oft ein implizites Wissen, das Wissenschaftler manchmal erst später entdecken. Ein typisches Beispiel für dieses implizite Wissen von Künstlern zeigt sich in der zeitlichen Struktur von Gedichten. In der gesamten Dichtkunst der Weltliteratur, also in ganz unterschiedlichen Kulturen, ist es so, dass die Dichter das von der Hirnforschung gefundene zeitliche Bewusstseinsfenster des menschlichen Geistes von zwei bis drei Sekunden nutzen, um eine Verszeile zum Ausdruck zu bringen. Das gilt im Englischen, Deutschen, Japanischen und allen anderen Sprachen, die wir untersucht haben. Eine gesprochene Zeile dauert immer zwei bis drei Sekunden – von Horaz bis Shakespeare. Und genau in dieser Zeitspanne erzeugt das menschliche Gehirn ein Bild, ein Gegenwartsfenster. Das Gleiche gilt analog auch für die Musik. Ein großes Thema der Hirnforschung ist derzeit die personale und kulturelle Identität. Das ist in der Dichtkunst schon seit Jahrhunderten ein Topos. Wie repräsentiere ich mich selbst. Wie kann ich über mein Leben hinaus leben? Künstler können sich unsterblich machen, indem ihre Kunst sie repräsentiert.

Die Welt: Welche Menschen bewundern Sie wegen ihrer großen Kreativität?

Pöppel: Es fällt mir schwer, mich hier auf nur einige zu beschränken. Ich habe viele außerordentlich kreative Menschen kennengelernt – zum Beispiel meinen Doktorvater Ivo Kohler, der 1946 insgesamt 120 Tage lang eine Brille getragen hat, die die Welt auf den Kopf stellte. Damit konnte er die Plastizität des Gehirns nachweisen, weil es die Bilder irgendwann wieder richtig herum wahrgenommen hat. Bewundert habe ich immer auch den Erfinder Edwin Land, den Gründer von Polaroid. Er hat mit 19 Jahren Harvard verlassen und dann als Unternehmer seinen Professor angestellt. Es gibt aber auch kreative Menschen, die man ganz und gar nicht bewundern kann – im Gegenteil. Als junger Mensch habe ich mal in einem Haus gelebt, in dem vormals der letzte in Deutschland hingerichtete Mörder gewohnt hatte. Mörder sind bisweilen unglaublich kreativ.

Die Welt: Sie haben geschrieben, dass viele Forscher nur deshalb Forscher geworden sind, weil sie der Eintönigkeit des Alltags entfliehen wollten. War das bei Ihnen auch so?

Pöppel: Ich bin Wissenschaftler aus Zufall geworden. Ich war schon immer ein Querulant, für den Unabhängigkeit etwas sehr Wichtiges gewesen ist. Und für einen Wissenschaftler ist es ja entscheidend, unabhängig zu sein. Ich habe viele Feinde, weil ich gern polarisiere. Und wenn ich in der Forschung in einen Mainstream gerate, werde ich sofort unruhig und suche mir ein anderes Thema. Dadurch bin ich schwer einzuordnen. Manch ein Kollege fragt sich: Was macht der eigentlich?

Die Welt: Was meinen Sie mit "zufällig Wissenschaftler geworden"?

Pöppel: Ich habe keine explizite Entscheidung getroffen, Wissenschaftler zu werden. Eigentlich wollte ich Marineoffizier sein. Doch ich bin aus der Bundeswehr wegen einer nicht opportunen Bemerkung entlassen worden. Da habe ich halt studiert – Psychologie und Biologie. Zunächst hat mich das Studium unendlich gelangweilt. Doch dann habe ich ein Praktikum in einem Max-Planck-Institut gemacht. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht und so bin ich in die Sache hineingezogen worden. Das war eher Zufall.

Die Welt: Als Wissenschaftler hatten Sie bessere Rahmenbedingungen, kreativ zu sein, als ein Marineoffizier?

Pöppel: Das mag schon sein. Vielleicht war es also ein Segen, dass ich damals rausgeflogen bin. Aber was weiß man schon darüber, was wie hätte sein können, wenn etwas anders gelaufen wäre im Leben.

Die Welt: In Ihrer Stimme klingt da ja noch immer etwas Wehmut. In Ihnen steckt wohl ein richtiger Seemann?

Pöppel: Oh ja. Ich wollte wirklich gern Seemann sein. Und in der Marineausbildung waren wir durchaus sehr kreativ. Auf der Schulfregatte 'Graf Spee' inszenierte ich während einer Auslandsreise sogar ein Hörspiel: 'Die Panne' von Dürrenmatt.

Die Welt: Aber das war nicht der Grund für Ihren Rauswurf bei der Marine?

Pöppel: Nein, nein. Es war August 1961 zur Zeit des Mauerbaus in Berlin. Ich hatte mich damals in einem Schreiben an den Chef der Marineschule kritisch zu der politischen Forderung geäußert, dass die Bundeswehr möglicherweise eine atomare Bewaffnung erhalten sollte. Das hatte gereicht, mich niederzubrüllen und umgehend rauszuschmeißen. Die haben nicht verstanden, dass ich nur eine Diskussion anregen wollte. Ich glaube, die hielten mich für einen Spion aus dem Osten.

Ernst Pöppel wurde 1940 in Pommern geboren. Er studierte Psychologie und Biologie in Freiburg, München und Innsbruck. Er habilitierte sich in Sinnesphysiologie an der Universität München und in Psychologie an der Universität Innsbruck. Von 1976 bis 2008 war Pöppel Professor für Medizinische Psychologie an der Universität München. Von 1991 bis 1992 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie. Im Jahr 2005 wurde er mit der Bayerischen Verfassungsmedaille in Silber geehrt. Sein jüngstes Buch „Von Natur aus kreativ“ ist bei Hanser erschienen
Foto: pa/dpa

Ernst Pöppel wurde 1940 in Pommern geboren. Er studierte Psychologie und Biologie in Freiburg, München und Innsbruck. Er habilitierte sich in Sinnesphysiologie an der Universität München und in Psychologie an der Universität Innsbruck. Von 1976 bis 2008 war Pöppel Professor für Medizinische Psychologie an der Universität München. Von 1991 bis 1992 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie. Im Jahr 2005 wurde er mit der Bayerischen Verfassungsmedaille in Silber geehrt. Sein jüngstes Buch "Von Natur aus kreativ" ist bei Hanser erschienen

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