Wenn Wut in Aggression umschlägt
Wut zählt zu den sogenannten Grundgefühlen, neben Freude, Angst, Überraschung, Verachtung, Ekel und Traurigkeit. Dem US-Psychologen Professor Paul Ekman zufolge bilden sie die Grundlage unserer Existenz als Menschen. Wir empfinden sie sehr direkt. Ekman geht davon aus, dass sie kulturunabhängig sind. Er analysierte Gesichtsausdrücke von Menschen auf der ganzen Welt und fand bei allen Versuchspersonen dieselben Emotionen.
In unserem Kulturkreis gehört wütend zu sein allerdings nicht zum guten Ton. „Wut ist nicht angenehm. Weder für den, der zornig ist, noch für den, der es abbekommt“, sagt Dr. Heidi Kastner. Die Psychiaterin leitet die forensische Abteilung der Landesnervenklinik in Linz (Österreich). Als Gerichtsgutachterin erstellt sie psychologische Profile von Gewaltverbrechern. Sie weiß, was passiert, wenn Wut in Aggression umschlägt.
Wer Wut zeigt, gilt schnell als jemand, der seine Gefühle nicht im Griff hat und leicht die Kontrolle verliert. „Diese Eigenschaften werden oft als negativ angesehen“, sagt Psychotherapeut Barnow. Aus Angst davor, von den anderen nicht mehr gemocht zu werden, sich Feinde zu machen oder negative Folgen heraufzubeschwören, wird Wut häufig unterdrückt. „Aber wir überschätzen die Reaktion der anderen auf unsere Wut“, sagt Barnow. „Andere können durchaus mit ihr umgehen, wenn sie nachvollziehbar ist.“ Und wenn wir uns auch wieder beruhigen.
Wut kann helfen, Grenzen zu setzen
Schließlich entsteht Wut nicht ohne Grund. Sie kommt auf, wenn man sich zum Beispiel über den Arbeitskollegen ärgert, der im gemeinsamen Büro immer wieder lautstark telefoniert, obwohl man ihm freundlich schon häufiger gesagt hat, dass man sich gestört fühlt. Oder wenn ein Kollege einem Arbeit zuschustert, die er hätte erledigen sollen.
Zornig zu werden und dem anderen auf diese Weise aufzuzeigen, dass er sein Verhalten ändern soll, kann dann sinnvoll sein. „Manchmal muss man sehr deutliche Worte finden, um klarzumachen, was man möchte“, sagt Barnow. Wut kann helfen, Konflikte auszutragen. Grenzen zu setzen. Situationen zu verändern. Vorausgesetzt, sie wird angemessen ausgedrückt.
Angestauter Ärger kann krank machen
„Wut meldet uns, dass die individuelle Toleranzgrenze überschritten wurde“, sagt Psychiaterin Kastner. Dieses Signal sollten wir ernst nehmen. Denn wer seine Wut ständig herunterschluckt, kann krank werden. „Zorn löst sich nicht von alleine auf. Er staut sich an.“ Das Gefühl setzt Stressreaktionen im Körper in Gang.
Er schüttet Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin aus, Blutdruck und Herzschlagrate steigen, die Gefäße verengen sich, die Muskeln werden hart. All das kann Verspannungen, Kopfschmerzen oder sogar Migräne und Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen. Auch ist möglich, dass Depressionen entstehen. „In diesem Fall richtet sich die unterdrückte Wut gegen einen selbst“, sagt Psychotherapeut Barnow.
Schlaganfallrisiko steigt
Aber auch wegen jeder Kleinigkeit zu explodieren schadet der Gesundheit. Mit der Zeit meldet das Gehirn dem Organismus schneller und häufiger, dass Stress vorhanden ist – die sogenannte Stressachse im Gehirn reagiert immer rascher. Langfristig können große Gesundheitsprobleme auftreten. „Das Schlaganfallrisiko steigt zum Beispiel“, sagt Barnow.
Es gilt also, richtig mit der Wut umzugehen. Statt den erregten Kioskbesitzer ebenfalls anzubrüllen, atmete Sven Barnow erst mal tief durch. Sagte sich, dass der Ärger des anderen nichts mit ihm zu tun hat und dass es dem Besitzer mit seiner Wut sicher auch nicht gut gehe. Nahm hin, dass manche Situationen im Leben nun mal unangenehm sind. Und verließ das Geschäft.
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