9. Oktober 2012
Stephan Schleim trägt in der Novemberausgabe der Psychologie Heute einige Fakten zum Hirndoping zusammen. Es ist nur bei ein bis zwei Prozent der Erwerbstätigen oder Studierenden in Deutschland verbreitet, beileibe also kein Massenphänomen. Die leistungssteigernde Wirkung von psychoaktiven Medikamenten ist umstritten, vor allem was Langzeitwirkungen angeht. Damit überwiegt die negative Seite der Mittel. Sie führen häufig nicht zu wirklichen Problemlösungen und machen abhängig.
Der Psychologe und Philosoph Stephan Schleim ist Assistenzprofessor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen in den Niederlanden. Er forscht dazu, wie die Hirnforschung in der Gesellschaft wahrgenommen wird und welche Folgen sie fürs menschliche Miteinander hat. In der Novemberausgabe der Psychologie Heute schreibt er darüber, wie verbreitet Hirndoping ist und was es eigentlich bringt.
Die aktuelle Ausgabe der Personalwirtschaft hat einen ähnlichen Schwerpunkt: Doping im Büro. Darin trägt der Redakteur Sven Frost Stimmen zusammen, die vor zunehmendem Doping am Arbeitsplatz warnen. Er schreibt zum Beispiel, dass „das künftig benötigte Fachkräftepotenzial nach Einschätzung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) durch Alkohol- und Drogenkonsum massiv bedroht“ ist (S. 19). Und Schleim lässt wissen, einige Warner gingen davon aus, dass „bereits 25 Prozent der Studierenden in den USA Psychopharmaka zur geistigen Leistungssteigerung“ nutzen (S. 60).
Doch ist Doping am Arbeitsplatz wirklich so verbreitet? Und was ist das genau? Hier sollen einige Fakten zusammengetragen werden, die vor allem auf zwei repräsentativen Studien beruhen: dem Gesundheitsreport der DAK-Gesundheit von 2010 zum Doping unter Erwerbstätigen und der Studie vom Hochschul-Informations-System (HIS) zum Hirndoping bei Studierenden von 2012.
Unter Doping am Arbeitsplatz wird hier die Einnahme von psychoaktiven Medikamenten verstanden, die entweder verschreibungspflichtig (z.B. Ritalin) oder illegal (z.B. Ecstasy) sind und genommen werden, um am Arbeitsplatz besser denken zu können oder sich besser zu fühlen. Außen vor bleiben bei dieser Betrachtung Drogen wie Alkohol, Nikotin oder Koffein, die auch als Genussmittel verbreitet sind.
17 Prozent nahmen schon einmal Mittel zur Steigerung von Denken oder Wohlbefinden (mit und ohne medizinische Notwendigkeit). Fünf Prozent der Erwerbstätigen zwischen 20 und 50 Jahren nehmen oder nahmen leistungssteigernde Substanzen (ohne medizinische Notwendigkeit). Nur 1 bis 1,9 Prozent der Erwerbstätigen nehmen aktuell (täglich, zweimal wöchentlich oder zweimal monatlich) leistungssteigernde Substanzen, dopen also.
Am häufigsten werden Medikamente gegen Angst und Unruhe (44 Prozent), depressive Verstimmung (35 Prozent), gegen Müdigkeit (19 Prozent), Gedächtniseinbußen (18 Prozent) und Konzentrationsschwierigkeiten (13 Prozent) genommen.
Fünf Prozent aller Studierenden in Deutschland haben seit Beginn ihres Studiums schon einmal Gehirndoping mit verschreibungspflichtigen oder illegalen Substanzen betrieben. Nur ein Prozent von ihnen nehmen diese Mittel häufig, dopen also aktiv.
Die häufigsten Doping-Mittel bei Studierenden: Medikamente wie Schmerz-, Schlafmittel und Antidepressiva (35 Prozent), Cannabis (23 Prozent), Ritalin gegen Unaufmerksamkeit und Überaktivität (18 Prozent), Betablocker zur Beruhigung des Herzschlags und Blutdrucksenkung (12 Prozent), Amphetamine für eine gesteigerte Erregung (9 Prozent), Mittel zur Leistungssteigerung (9 Prozent), Modafinil zum Wachbleiben (4 Prozent), Kokain (3 Prozent) und Ecstasy (2 Prozent).
Die kurzfristige und vor allem die langfristige Wirksamkeit sind auch nach jahrzehntelanger Forschung fraglich. Schleim nennt das „einen Skandal“. Mittel zur Leistungssteigerung erhöhen die Leistung zwar bei simplen Aufgaben, verschlechtern sie jedoch bei komplexen Problemen. Vermutlich verbessern aufputschende Substanzen nicht das Denken, sondern motivieren lediglich dazu, Stress und Leistungsdruck auszuhalten – was die Leistung indirekt verbessert.
An erster Stelle ist die körperliche und geistige Abhängigkeit zu nennen. Für Amphetamine und Ritalin liegt sie schätzungsweise bei 10 Prozent. Dopingmittel setzen häufig einen Teufelskreis in Gang, bei dem nicht die Ursachen selbst, sondern nur die Symptome bekämpft werden. Wenn die stressigen Arbeitsbedingungen nicht angegangen werden, dämpft die Droge lediglich ohne Probleme zu lösen. Diese werden durch die Medikamente eher noch aufrechterhalten.
Schleim fordert daher bei der Diskussion um Dopingmittel „die gesellschaftliche Dimension ins Blickfeld zu rücken.“ Zudem warnt er, dass die heutige Verbreitung von Amphetaminen und Ritalin wieder so groß ist wie zuletzt in den 1960er Jahren als Sekretärinnen und Fernfahrer vorbehaltslos anregende Pillen einnahmen. Die Absatzsteigerung bei den Anbietern ist jedenfalls beachtlich. 1990 wurden weltweit 417 Kilogramm Amphetamine verkauft, 2011 schon 28 Tonnen.
Stephan Schleim kommt bei ein bis zwei Prozent aktiven Hirndopern zu dem Schluss: „Gehirndoping ist vielen Medienberichten und Expertenmeinungen zum Trotz kein Massenphänomen – mit großer Sicherheit in Deutschland und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht in Nordamerika“ (S. 62).
Steigende Verbrauchszahlen bei Stimulanzien sind jedoch ein Indiz, dass der Stress am Arbeitsplatz größer geworden ist und dass viele den Stress nicht mehr bewältigen können. Stephan Schleim und auch Sven Frost fordern daher, dass man sich der Stressfaktoren annimmt und Dopingprävention im Betrieb Hand in Hand gehen muss mit Angeboten zum wirksamen Stressmanagement.
Wirtschaftspsychologie-aktuell.de
Weiterführende Informationen:
DAK-Gesundheit (Hrsg.). (2010). Gesundheitsreport 2009. Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. Schwerpunktthema Doping am Arbeitsplatz [PDF]. Hamburg: Herausgeber.
Sven Frost (2012). Gefährlicher Rausch [Abstract]. Personalwirtschaft, 10/2012, 18-21.
Elke Middendorff, Jonas Poskowsky Wolfgang Isserstedt (2012). Formen der Stresskompensation und Leistungssteigerung bei Studierenden. HISBUS-Befragung zur Verbreitung und zu Mustern von Hirndoping und Medikamentenmissbrauch (HIS Forum Hochschule, 01/2012) [PDF]. Hannover: HIS Hochschul-Informations-System GmbH.
Elke Middendorff Jonas Poskowsky (2012). Hirndoping bei Studierenden in Deutschland [PDF]. HIS Magazin, 2/2012, 2-4.
Stephan Schleim (2012). Der Mythos vom Gehirndoping [Abstract]. Psychologie Heute, November 2012, 60-64.
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