Moskau –
Bei Präsident Putin und der Mehrheit der Russen mischt sich ein quälendes Minderwertigkeitsgefühl mit einem unkontrollierten Machtimpuls. Das Einlenken im Ukraine-Konflikt wäre für Putin deshalb ein Eingeständnis von Schwäche. Ein Kommentar
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko unternimmt einen weiteren Anlauf zu Gesprächen mit Russland. Dass er dabei den weißrussischen Diktator Alexander Lukaschenko ins Boot holen will, zeigt, wie hoffnungslos die Lage ist. Der Abschuss von Flug MH 17 hat nichts an der ukrainischen Tragödie geändert – mit der Ausnahme, dass Europa und die USA endlich zu Sanktionen greifen, die den Namen verdienen.
Der russische Präsident Wladimir Putin macht dennoch weiter wie bisher. Er ist es, der das Heft des Handelns in der Hand hält. Poroschenko muss darauf beharren, das Gewaltmonopol seines Staates zu verteidigen. Putin dagegen könnte das Blutvergießen in der Ostukraine stoppen. Aber er wird dies nicht so bald tun, erst recht nicht als Reaktion auf die westlichen Sanktionsbeschlüsse. Das wäre in russischen Augen ein Eingeständnis von Schwäche und damit inakzeptabel.
Es ist diese psychologische Komponente, die den Gang der Dinge in der Ukraine-Krise entscheidend beeinflusst. Wer sie ausblendet und Außenpolitik als Einmaleins nationaler Interessen definiert, macht einen Fehler. So rational ist Politik nicht, weil Menschen und Völker viel weniger rational sind, als sie meist selbst glauben.
Verlust des Weltmachtstatus
Putin personifiziert geradezu idealtypisch die mentale Verfassung Russlands, das sich nicht mit dem Verlust des Weltmachtstatus abfinden kann. Der Kremlchef sagt dies auch offen. Den Zerfall der Sowjetunion bezeichnet er als Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts. Frustration jedoch erzeugt Aggression. Bei Putin und einer großen Mehrheit der Russen mischt sich ein quälendes Minderwertigkeitsgefühl mit einem unkontrollierten Machtimpuls.
Dieser Weltmacht-Komplex droht inzwischen kollektive psychopathologische Züge anzunehmen. Umfragen zeigen, dass gerade einmal drei Prozent der Russen eine Mitverantwortung ihres Landes für die Ukraine-Krise eingestehen. Aber damit nicht genug. 70 Prozent glauben, die USA hätten den Ersten Weltkrieg begonnen. Und der Massenmörder Josef Stalin ist populärer denn je.
Die Sanktionen gegen Russland sind richtig. Aber der Westen sollte sich hüten, Putin und das russische Volk in die Enge zu treiben. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat recht, wenn er auf Diplomatie setzt. Deshalb verdient auch Poroschenkos zweifelhafter Lukaschenko-Vorstoß Unterstützung.