Kommentar: Heute noch einmal feiern

Wirtschaft ist Psychologie. Nicht nur, aber vor allem. Der deutschen Seele wird im Augenblick einiges zugemutet. Auf der einen Seite verdichten sich katastrophische Meldungen aus Europa zu einem apokalyptischen Gesang, auf der anderen Seite reißen die guten Nachrichten, was die inländische Wirtschaftskraft betrifft, nicht ab. Die jüngsten Zahlen zur Konjunkturentwicklung im Inland werden so vom Gros der Sachverständigen als Abschiedsgruß einer schönen Zeit nur mehr im Vorbeigehen wahrgenommen, während sich einige wenige Sachverständige fragen, ob man sich über die Quartalszahlen nicht doch freuen dürfe. Man darf: weil die Deutschen es sich verdient haben. Dank eines bemerkenswerten Konsumklimas und inländischer Investitionen bleibt die deutsche Volkswirtschaft überraschend stabil.

Die einst für ihre Maßlosigkeit berüchtigten Deutschen haben zum einen gelernt, ihren Erfolg nicht mehr zu überschätzen und andererseits auch nicht mehr in ihren Ängsten zu ertrinken. Minuten nachdem am Dienstag die Zahlen des statistischen Bundesamtes für strahlende Gesichter gesorgt hatten, folgte ein niederschmetternder Ausblick vom ZEW: Die Krise wird bald mit Wucht auch Deutschland treffen. Umso wichtiger ist es, dass die fleißigen Menschen, die gerade weltweit bewundert werden für ihren Leistungswillen, innehalten, sich freuen über das Erreichte, sich auf die Schulter klopfen lassen und dann umso motivierter sind, der künftigen Krise zu trotzen. Die Belastungen der Wiedervereinigung haben ebenso wie der langjährige Reformstau diese Volkswirtschaft an den Abgrund getrieben: Hingabe wie Ehrgeiz haben in Kombination mit klugen Unternehmern und hoch qualifizierten Arbeitnehmern Unvorstellbares geleistet. Den Deutschen muss also nicht bange sein.

Aufgabe der Politik, insbesondere der Regierung, ist es, die Krisenfestigkeit der hiesigen Wirtschaft durch entschlossenes Handeln weiter zu verbessern. Davon ist im Augenblick zu wenig zu spüren. Die Union diskutiert zur Unzeit über einen Mindestlohn, die FDP strauchelt orientierungsarm durch die Debatten, und die Opposition übt sich entweder im antikapitalistischen Ressentiment oder in abgestandenen Steuererhöhungskampagnen. Auch wenn sich die Union auf ihrem Parteitag in Leipzig weit von ihren freiheitlichen Träumen aus dem Jahr 2003 entfernt hat, so erscheint sicher, dass die "neoliberalen" Debatten der Nullerjahre das Bewusstsein der sonst gerne idealistischen Deutschen materialistisch geerdet haben. It's the economy, stupid. Das haben seither alle verstanden. Diese kostbare Erkenntnis darf nun nicht wieder ins Ungefähre verwischen.

ulf.poschardt@welt.de

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