Auch Drogenkonsumenten müssen mal. Und mit dem Urin fliessen Rückstände in die Kanalisation, die gemessen werden können. «Wenn Sie heute Morgen eine Probe aus der Kläranlage nehmen, kennen Sie den Drogenkonsum einer ganzen Stadt vom Vorabend», sagt Forscher Christoph Ort. Zusammen mit seinen Kollegen vom ETH-Wasserforschungsbereich Eawag hat er 2012 und 2013 während je einer Woche die Werte von fünf Substanzen in 42 europäischen Städten gemessen und nun die Resultate in der gestrigen Ausgabe des Fachjournals «Addiction» veröffentlicht. Beim Kokainkonsum liegt Zürich an dritter Stelle hinter Antwerpen und Amsterdam, Basel und Genf liegen auf den Rängen 9 und 10. Auch Ecstasy wird in der Schweiz häufig konsumiert, wogegen Amphetamine und Crystal Meth eher verschmäht werden.
Solche objektiv erfassten Konsumzahlen sind im Bereich der Drogenpolitik hochwillkommen. Denn die vorhandenen Daten beruhen meist auf subjektiven Umfragen oder sind reine Schätzwerte, die nicht selten politisch und ideologisch gefärbt sind, wie der Analytiker Roger Flury von der Bundeskriminalpolizei 2011 in einem Fachartikel im «Suchtmagazin» feststellte.
Kokain auch unter der Woche
In der neuen Studie wurden während einer Woche alle fünf bis zehn Minuten automatisch Abwasserproben entnommen und zu einer Tagessammelprobe zusammengeschüttet. Daraus ermittelten die Forscher den Tageswert des Konsums von Kokain, Amphetaminen, Ecstasy, Crystal Meth und Cannabis pro 1000 Personen. Erstmals wurden die Werte für eine ganze Woche bestimmt: nämlich die dritte April-Woche im Jahr 2012 und die zweite März-Woche 2013. Die Proben zeigen deutlich, dass der Ecstasy-Konsum in der Schweiz am Wochenende stark zunimmt und am Montag wieder abfällt. Weniger stark sind die Schwankungen hingegen beim Kokainkonsum.
Augenfällig in der neuen Datenerhebung ist der deutliche Anstieg des Kokainkonsums in Zürich, Basel und St. Gallen: Er hat 2013 im Vergleich zum Vorjahr um bis zu 25 Prozent zugenommen. Die Gründe für diesen Anstieg sind allerdings unklar. «Da wir nur den Gesamtkonsum einer Stadt und nicht das Konsummuster erfassen, können wir nichts über die Gründe der Zunahme sagen», erklärt Studienleiter Christoph Ort. «Es könnte sein, dass die einzelnen Konsumenten mehr konsumieren oder aber dass sich der Konsum ausgebreitet hat.» Auch der Konsum von reinerem Kokain könnte zu dieser Zunahme geführt haben. Dafür spricht, dass Substanzanalysen gezeigt haben, dass das in der Schweiz angebotene Kokain überdurchschnittlich rein ist.
Ebenfalls gestern hat die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) in Lissabon ihren Jahresbericht veröffentlicht. Sie erachtet das Abwassermonitoring als wertvolle zusätzliche Methode im Bereich der Drogenpolitik. In einer Pressemitteilung streicht die EBDD heraus, dass die neue Methode grosses Potenzial habe, vor allem auch bei der Erfassung von neuen, psychoaktiven Substanzen, Dabei handelt es sich um künstliche Stoffe, die oft als Ersatzstoffe für bekannte Drogen wie LSD, Morphin, Kokain und andere hergestellt werden und deren Wirkung nachahmen. Laut EBDD-Jahresbericht sind bereits 350 solcher Substanzen im Umlauf, über den Markt für diese Stoffe ist kaum etwas bekannt. Um auch sie erfassen zu können, müsste die Abwassermethode erweitert werden. «Was wir jetzt haben, sind wissenschaftlich erhärtete und international vergleichbare Daten», sagt Christoph Ort. «Aber wir möchten in Zukunft noch mehr Tage während eines Jahres messen und auch weitere Substanzen erfassen.»
Die Daten gegenschneiden
Die von der Eawag angewendete Methode ist unter Fachleuten nicht unumstritten. Laut Peter Menzi, stellvertretender Leiter der Fachstelle Infodrog, einer vom Bundesamt für Gesundheit eingesetzten Koordinationsstelle für Suchtfragen, darf die Aussagekraft der gesammelten Daten nicht überschätzt werden. Zum Teil widersprächen die Resultate anderen Untersuchungen wie etwa derjenigen des Global Drug Survey, einer unabhängigen englischen Forschungsinstitution, die weltweit Informationen über den Drogenmissbrauch sammelt. Gemäss deren in Fachkreisen hochanerkannten Studie liegt der Kokainkonsum in der Schweiz unter dem europäischen Durchschnitt.
Auch das schweizerische Suchtmonitoring gelangt zu anderen Ergebnissen als die Studie der Eawag. Da bei diesem Monitoring die Daten per Telefonumfrage erhoben werden, ist auch deren Aussagekraft beschränkt. Dagegen liefert die Abwasserstudie objektive Daten zum Gesamtkonsum. Infodrog-Vertreter Peter Menzi sagt, erst eine Datentriangulation, bei der Resultate aus den verschiedenen Ansätzen komplementär ausgewertet würden, lasse genauere Rückschlüsse über den Substanzkonsum zu.
Was Peter Menzi an sämtlichen Studien zum Drogenkonsum bedauert, sind deren indirekten Folgen durch die Berichterstattung darüber und über das Thema Drogen generell. «Die Auswirkungen können aufgrund der Berichterstattung sogar kontraproduktiv sein», sagt Menzi. Schlagzeilen wie «Die Schweizer sind Kokainweltmeister» führten zu falschen Schlussfolgerungen. «Denn das grösste Problem in der Schweiz ist nicht das Kokain, sondern nach wie vor der Alkohol.» (Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 28.05.2014, 07:18 Uhr)