Frau, Prof. Möller, frisch Verliebte sind oft nicht bei Sinnen. Woran liegt das?
Prof. Heidi Möller: Um es mit Sigmund Freud zu sagen: Der Zustand der Verliebtheit gleicht einer Psychose. Bei Verliebten wird der Nucleus accumbens im Zentrum des Gehirns aktiviert. Diese Region spielt auch eine zentrale Rolle beim Belohnungssystem des Gehirns sowie bei der Entstehung von Sucht.
Also gibt es durchaus Parallelen zwischen Drogenkonsumenten und Verliebten?
Möller: Ja, die Wahrnehmung bei Verliebten ändert sich. Man sagt ihnen auch nach, sie seien ein bisschen gaga. Deswegen benutzt man für Verliebte auch sprachliche Figuren wie Schmetterlinge oder Flugzeuge im Bauch oder auf Wolke Sieben schweben. Psychotherapeuten behaupten, dass man mit Verliebten gar nicht arbeiten kann, weil sie mit Glückshormonen völlig überflutet sind. Das sind manische Phasen, bei denen drei Wochen ohne Schlaf ganz normal sind.
Wie lange dauert dieser Zustand in der Regel?
Möller: Zwischen sechs Wochen und sechs Monaten.
Wenn Verliebtsein wie eine Droge wirkt, kann man davon abhängig werden?
Möller: Ja, diese Verliebtheitssucht wird auch als Donjuanismus - nach der Figur Don Juans - bezeichnet und kommt bei Männern öfter vor als bei Frauen. Wenn der Nucleus accumbens bei ihnen nicht mehr feuert, dann bekommen diese Menschen Entzugserscheinungen. Manche Menschen verlieben sich deshalb immer wieder, bis sie 40 oder 50 sind. Im Alter wundern sie sich dann, dass sie allein sind.
Ist das mit Sexsucht zu vergleichen?
Möller: Bei Sexsucht geht es ja nicht zentral um Gefühle, sondern eher um die Eroberung und die Spannungsabfuhr. Natürlich gibt es hier auch Überschneidungen. Denn auch bei Verliebten ist das Begehren am Anfang gigantisch. Verliebte möchten unentwegt übereinander herfallen. Da ist es schon eine Quälerei, an die Arbeit gehen zu müssen.
Wie oft kann man sich verlieben?
Möller: Das ist ganz unterschiedlich. Manche Menschen binden sich relativ früh. Allerdings schützt selbst eine intakte Partnerschaft nicht davor, dass man sich neu verliebt. Allerdings muss man auch eine innere Bereitschaft dafür haben, zum Beispiel nachdem man verlassen worden ist und die Trauer überwunden hat. Wie wird aus Verliebtsein Liebe? Möller: Wenn man die rosarote Brille abgelegt hat, dann kommt die Nagelprobe für jede Beziehung. Plötzlich stellt man fest, dass der Partner schnarcht, Löcher in den Socken hat oder in der Nase bohrt. Dann bekommt die zuvor idealisierte Person erste Risse. Dann muss man sich die Frage stellen, ob man dieses „Mängelwesen“ trotzdem lieben kann.
Verliebte leiden also unter Realitätsverlust?
Möller: Im Stadium der Verliebtheit sieht man einen idealen Menschen. Das hat aber eigentlich gar nichts mit dem Gegenüber zu tun, sondern mit den eigenen Wünschen und Träumen, die man in den Traumpartner projiziert. Deshalb ist es manchmal auch so bitter, wenn diese Wahrnehmungsverzerrung zu Ende geht.
Das hört sich ja fast so an, dass das Gehirn erst vernebelt werden muss, damit man überhaupt einen Partner finden kann.
Möller: Es gibt die bösartige Theorie, dass sich niemand binden würde, ohne diese Überflutung des Körpers mit Glückshormonen. Vielleicht hat es die Evolution von daher auch so eingerichtet.
Trotzdem kann aus Verliebtsein Liebe entstehen.
Möller: Ja. Wenn man nach der vollkommenen Idealisierung ein realistisches Bild von dem Gegenüber bekommt, dann lernt man abzuwägen. Dann stellt man zum Beispiel fest, dass der Partner nicht gut singen, aber dafür gut kochen kann. Es muss gelingen, den anderen mit seinem Für und Wider anzunehmen, zu mögen und wertzuschätzen.
Kann man den anfänglichen Zauber konservieren?
Möller: So wie in der ersten Phase der Verliebtheit wird es nie mehr werden. In einer Beziehung, die die Verliebtheitsphase überstanden hat, muss man sich als Paar Freiräume schaffen, z.B. auch ohne mal Zeit ohne die Kinder zu verbringen. Eine Liebe muss man genauso wie einen Garten pflegen. Wenn man abends nach Hause kommt und sich freut, den anderen zu sehen, dann kann das ein viel reichhaltigeres Gefühl sein.
Wie wichtig ist die Liebe für dauerhafte Beziehungen?
Möller: Romantische Liebe ist bei uns erst seit 150 Jahren bekannt. Davor wurden Bindungen rational gesteuert. In Ländern wie Indien und Israel, in denen immer noch Heiratsvermittler viele Paare zusammenbringen, halten Ehen erstaunlicherweise besser als bei uns.
Von Ulrike Pflüger-Scherb