Karl Jaspers und die Neurowissenschaften

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Mittwoch
04. Juli 2012
19:05

Reden oder zeigen. Karl Jaspers und die Neurowissenschaften
Gestaltung: Nicole Dietrich

"Wird der Mensch erkannt, dann wird nicht er selbst erkannt, sondern etwas in seiner Erscheinung." Karl Jaspers war Existenzphilosoph und Phänomenologe, Psychiater, Herzkranker und Bestsellerautor. 1913 wird er mit seiner Habilitationsschrift "Allgemeine Psychopathologie" berühmt.

Er stellt die Psychiatrie auf geisteswissenschaftlich-phänomenologische Beine und schreibt - in asexueller Abgrenzung zu Freud - über die Seele, um die Philosophie zu retten. Die Überwindung der Disziplinengrenzen, von der Psychiatrie in die Psychologie, von der Psychologie in die Philosophie, von der Philosophie in die Religionswissenschaften, wird ihn zu einem der Paradephilosophen im Nachkriegsdeutschland machen.

Demente, Schizophrene, Depressive sehen

Psychisch kranke Menschen erfahren die Welt labiler als "Gesunde". Manche fallen aus den Rastern von Zeit und Raum, stückeln Wahrnehmungen zu einer Realität, zu der mit Alltagssprache oder Gestik kaum Zugang zu finden ist. Eine Lebenskrise genügt, um in Angstwelten oder psychotischen Umgebungen verloren zu gehen, die Fremdheit stiften.

Karl Jaspers wollte dieses Erleben erfassen. 1913 schrieb er, als 30-Jähriger, ein für die Fachwelt wegweisendes Lehrbuch, die "Allgemeine Psychopathologie". Darin rief er zu Methodenkritik auf und sparte nicht mit Begriffen wie "Bewusstsein", "Seele" und "Ganzheit". Noch bevor er den Sprung in die Psychologie und von dort 1922 auf einen Lehrstuhl für Philosophie machte, lies er die Phänomenologie aus der Ecke der Psychiatrie sprechen.

Psychiater, besinnt euch!

Mahnende Worte auf vielen hunderten Seiten. - Wer glaubt zu wissen, wie der Mensch tickt, liegt falsch. Der Mensch ist komplexer als die "erklärenden" Naturwissenschaften und ihr Methodenapparat, die Körpermedizin, es erfassen könnten. Auch die Geisteswissenschaften, hier meint er die Psychologie, können sich mit ihrem "verstehenden" Ansatz nur annähern.

Die Empathie und Offenheit, mit der sich Jaspers seelischen Störungen widmet, ist bis heute, fast hundert Jahre später, einnehmend. Die Schrift berührt, weil sie den kranken Menschen nicht mit Deutungen überschreibt, sondern sein Erleben in seiner Einzigartigkeit geltend macht.

Denn wer erklärt, stellt sich drüber. Die Unterscheidung von krank und gesund wird hinfällig. Und das Leben dadurch nicht einfacher. Man spürt das 19. Jahrhundert, den Mut zu großen Studien, den enzyklopädische Eifer, der im Internetzeitalter wirkungslos geworden ist.

Jaspers arbeitet sich in seinen weiterführenden "pathographischen Studien" an Strindberg und van Gogh ab, an der Beschreibung der Schizophrenie, die bei dem einem das Genie zu Tage fördert, bei den (meisten) anderen in Wirrnis anfängt und endet. - Aber keine Gugginger Missverständnisse!

Das seelische Erleben ist abhängig von der Differenziertheit einer Person, betonte Jaspers, die "Seele" kennt also eine Art Bildung und Entwicklung. Heute weiß man, dass Gehirn und Geist nicht - wie es der Dualismus vorgibt - zwei getrennte Sphären sind.

Hirnerkrankungen haben Auswirkungen auf das Seelenleben. Seelische Erlebnisse haben körperliche Folgen. Die Falle sind die Begriffe.

Was heißt Seele?

Der Begriff "Seele" ist ein schlechter Haltegriff. Man müsse sich von den Vorstellungen der Seele als Substanz, als schwebender Hauch verabschieden, sagt Thomas Fuchs. Er ist Psychiater, Philosoph und Psychotherapeut, ein indirekter Nachfolger von Jaspers in Heidelberg, allerdings mit therapeutischem Fokus.

Derlei Bilder, die in Hollywood schon mal 21 Gramm auf die Waage bringen, sind trügerisch, denn sie suggerieren, es gebe uns ein zweites Mal "in unserem Inneren". In dieser Analogie tritt schließlich in Zeiten der modernen Hirnforschung, die unser Bild von Parkinson, Alzheimer, Depression oder Gedächtnis geradezu umgeworfen hat, das Gehirn an die Stelle der Seele, und suggeriert: nicht ich handle und fühle, sondern mein Gehirn. Der alte Dualismus erscheint im neuen Gewand.

Thomas Fuchs spricht lieber von "dem Seelischen" und meint, in der Tradition der Leibesphänomenologie: Wir sind leibliche, lebendige Wesen - mit Gedanken, Gefühlen, Wünschen, die unseren gesamten Organismus betreffen. Wir haben keine "Innenwelt", sondern sind mit unserem Leib in der Welt.

Das Seelische oder Psychische bedeutet: Der Organismus steht in gefühlter Beziehung zu anderen, der Umwelt, der sozialen Welt. Das entspräche dem Bild einer ganzheitlichen Biologie. "Das Leben", so Thomas Fuchs, "ist eine Leibesübung."

Offenheit, Bewegung, Grund

Jaspers liebte das Meer. Hier kann man seinen Begriff von Existenz erahnen. In seiner Autobiographie (Schicksal und Wille) schreibt er über seine glückliche Kindheit an der Nordsee.

"Das Meer zu sehen, wurde für mich das Herrlichste, das es in der Natur gibt. Das Wohnen, das Geborgensein ist uns unentbehrlich und wohltuend. Aber es genügt uns nicht. Es gibt dieses andere. Das Meer ist seine leibhaftige Gegenwart. Es befreit im Hinausgehen über die Geborgenheit, bringt dorthin, wo zwar alle Festigkeit aufhört, aber wir nicht ins Bodenlose sinken. Wir vertrauen uns dem unendlichen Geheimnis an, dem Unabsehbaren, Chaos und Ordnung."

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