Kann Hirntraining bei ADHS-Kindern Ritalin ersetzen?

In der Praxis von Tina Gruber verfolgt Anna (14) ihren Lieblingsfilm. Dabei lässt sie sich von nichts ablenken. Ihre Therapeutin ist zufrieden mit ihr. In zahlreichen Neurofeedback-Sitzungen hat sie gelernt, ihre Hirnstro?me so zu regulieren, dass sie den Film ohne Unterbrechungen anschauen kann. Denn sobald ihre Gedanken abschweifen, stoppt das Programm den Film.

Anna litt jahrelang unter Aufmerksamkeitsstörungen. Diese wurden bereits im Kindergarten bemerkt. Sie hatte Mühe, sich in die Gruppe einzufügen, redete sehr schnell oder sagte Dinge, die sie gar nicht sagen wollte. «In der Schulzeit wurde es besser», erzählt Anna. ­«Allerdings plagten mich dafür starke Migräneanfälle.» Dann stellte der Arzt die Diagnose ADHS: Aufmerksamkeits­defizit-Hyperaktivitäts-Störung.

Tina Gruber ist Psychologin in Zürich. Sie bevorzugt anstelle von ADHS den Ausdruck POS, Psychoorganisches Syndrom, unter dem diese Diagnose ­früher bekannt war. Die Psychologin ist der Ansicht, dass es sich um ein organisches Problem handle, das sich in mehreren Symptomen zeigt. «Betroffen ist das ­Organ Hirn», sagt sie.

Konzentration dank Belohnung

Mit dem Neurofeedback verwendet Gruber eine Methode, die in den vergangenen Jahren immer beliebter geworden ist. Besonders in der Schweiz, dem Land mit ungewöhnlich vielen Therapeuten auf dem Gebiet. Neurofeedback ist ein Hirntraining, das nach dem Belohnungsprinzip funktioniert. Es verspricht, die Konzentrationsfähigkeit, die Aufmerksamkeit und die Impulskontrolle bei ADHS-Kindern ebenso stark zu verbessern wie das Ritalin und dieses letztlich ersetzen zu können.

Vor der Therapie fragen die Leute laut Tina Gruber oft: «Was macht man beim Neurofeedback denn mit dem Hirn?» Gruber antwortet: «Man macht gar nichts, sondern leitet einen Lernprozess ein.» Das Hirn lerne, sich selbst zu regulieren. «Wir machen permanent Abgleiche in unserem Hirn, während wir die Umwelt beobachten. Dasselbe gilt beim Neurofeedback.»

Die Therapie setzt direkt bei der elektrischen Aktivita?t im Gehirn an. Diese wird von drei am Kopf befestigten Elektroden in einem QEEG (Quantitatives Elektroenzephalogramm) aufgezeichnet. Daran lässt sich ablesen, ob ein Patient gestresst, entspannt oder konzentriert ist. Ein hoher Anteil an Beta-Hirnwellen in der frontalen Hirnregion entspricht zum Beispiel einem konzentrierten Zustand. Bei Anna wurden hingegen regelmässig zu wenig sogenannte Theta-Hirnwellen gemessen: ein Zeichen für Schläfrigkeit.

Während der Neurofeedback-Sitzungen trainieren die Kinder sich selbst und versuchen, am Bildschirm die Hirnwellen in einen normalen Bereich zu führen. Manche Kinder denken dabei an ein Hobby, an ihre Freunde oder an ihre Geburtstagsparty, die sie bald feiern werden. Meist reicht es auch, sich einfach zu entspannen.

Anna benötigte rund 40 Sitzungen, bis sie sich ihren Film entspannt ansehen konnte und nur noch wenige Unterbrüche zeigte. Unterbrochen wird immer dann, wenn die aktuellen Hirnwellen nicht den gewünschten entsprechen. Anna muss dann versuchen, mit Vorstellungen die richtigen Hirnströmungen zu produzieren und so den Film wieder zum Laufen zu bringen.

Was beim Neurofeedback im Hirn genau passiert, ist unklar. «Wir glauben, dass im Hirn eine Art Gleichgewichtszustand entsteht», sagt Ute Strehl, Psychotherapeutin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Tübingen, die das Neurofeedback seit längerem erforscht. Trainiert ein Kind regelmässig, verbessert sich oftmals erst der Schlaf. Das bewirkt, dass es sich auch im Schulalltag wohler fühlt und besser konzentrieren kann. Möglicherweise kooperieren durch die Therapie auch verschiedenen Netzwerke im Hirn optimaler miteinander, lautet eine Hypothese.

Auch Elena Arici, Psychologin aus Stäfa, die seit 12 Jahren ADHS-Patienten mit Neurofeedback behandelt, beobachtet, dass sich bei den Kindern der Schlaf verbessert und sie am Morgen ausgeruhter sind. «Unsere Patienten erhalten eine bessere Impulskontrolle, können sich länger konzentrieren, und die Symptome der Hyperaktivität reduzieren sich eindeutig», sagt sie. Das Neurofeedback könne problemlos auch dann durchgeführt werden, wenn das Kind gleichzeitig Stimulanzien wie Ritalin einnehme.

Studien sind umstritten

Die Anerkennung der Neurofeedback-Methode lässt bisher auf sich warten. In verschiedenen Studien konnten eindeutige Hinweise für eine Verbesserung der Aufmerksamkeits- und Verhaltenskontrolle gefunden werden. Das zeigte zum Beispiel eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2009, bei der Ute Strehl mitgewirkt hat. Es zeigte sich, dass sich nach Neurofeedback Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität signifikant zum Positiven verändern. Viele Studien sind aber methodisch umstritten, weshalb ein allgemein akzeptierter Wirksamkeitsnachweis immer noch aussteht. Mit ein Grund, wieso die Krankenkassen Neurofeedback bisher nicht vergüten.

Bei Anna war die Wirkung jedenfalls nicht durchschlagend. Zwar hatte sie in den vielen Therapiesitzungen gelernt, ihre Hirnstro?me zu kontrollieren. Doch einige Wochen nach Abschluss der Therapie bemerkte sie wieder Stressan­zeichen. «Ich spürte, wie alte Symptome wieder auftauchten und die Ruhe, die ich vorher hatte, nicht mehr vollständig vorhanden war», erzählt Anna. Nun absolviert sie nochmals zwei Trainings­sitzungen.

(DerBund.ch/Newsnet)

(Erstellt: 17.11.2015, 18:35 Uhr)

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