Kämpferin für die Ehre beschnittener Frauen – Tages

Die zwei somalischen Schwestern wurden eines Tages ins Büro der Zentrumsleiterin zitiert. Die Jüngere der beiden musste auf deren Geheiss die Hosen herunterlassen. Die Zentrumsleiterin begutachtete ihr Genital, und weil es beschnitten war, zeigte sie sich schockiert. Die Schwestern waren am Boden zerstört – wagten aber nichts zu sagen. «Sie fühlten sich hilflos und ausgeliefert, denn sie waren ja Asylsuchende, welche die Rechte der Schweiz nicht kannten», kommentiert Fana Asefaw den Fall, der sich vor einigen Monaten in einem Schweizer Asylzentrum zugetragen hat. Die jüngere Somalierin war wegen eines Traumas bei ihr in Behandlung – nicht, weil sie genital beschnitten worden war, sondern aufgrund ihrer Behandlung im Asylheim.

Fana Asefaw, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, hat über weibliche Genitalbeschneidungen promoviert und dazu ein Sachbuch veröffentlicht. Grundlage dafür war eine empirische Untersuchung, die sie über mehrere Jahre in Eritrea und in Deutschland durchführte. Und weil Fana Asefaw zwar in Deutschland aufgewachsen, aber eritreischer Herkunft ist, fragt man sich: Ist sie womöglich selbst betroffen? Ist sie eine in der Schweiz lebende Waris Dirie, die – ähnliche wie jene mit ihrem berühmten Erfahrungsbericht «Wüstenblume» – die Menschen politisch aufrütteln will?

Kultursensible Aufklärung gefragt

Wir treffen uns kurz vor Jahresende in der Privatklinik Clienia Littenheid im Kanton Thurgau. Hier, in der dorfähnlichen Klinik auf der grünen Wiese unweit vom sankt-gallischen Wil, arbeitet Fana Asefaw als Oberärztin für junge Patienten, die ein psychisches Leiden haben. Frühkindlicher Autismus, ADHS, Angststörungen. Mehr noch als der klinischen Tätigkeit gehört ihr Herz den Flüchtlingen, insbesondere den Frauen. In Winterthur bietet Asefaw eine Migrationssprechstunde an, und sie ist oft als Expertin für Frauengesundheit in Asylzentren unterwegs, meist auf Anfrage von Organisationen wie Caritas, NCBI Schweiz oder Suke, dem Schweizer Unterstützungskomitee für Eritrea, dessen Vorstand sie angehört.

«Mir sind die Sicht und die Bedürfnisse der Migrantinnen sehr wichtig», sagt sie, kaum hat sie die Tür ihres Büros geschlossen – in dem sich Kisten mit Medikamenten stapeln, die über Suke nach Eritrea verschickt werden sollen. «Bei gesundheitlichen Fragen wie Sexualität, Verhütung und eben auch Beschneidung brauchen diese Frauen eine gute, kultursensible Aufklärung, und zwar in Begrifflichkeiten, die sie verstehen. Dann können sie das Gesagte auch annehmen.»

«Mir ist schon als Kind in Eritrea bewusst geworden, dass Frauen sehr stark sind.»

Fana Asefaw gehört nicht zu jenen Aktivistinnen, die mit brennender Fackel weibliche Genitalbeschneidungen anprangern und dabei «Stoppt die Verstümmelungen!» skandieren. Sie nimmt das Wort «Verstümmelung» noch nicht einmal in den Mund, weil es ihrer Meinung nach die Betroffenen auf ein einziges Merkmal reduziert und somit stigmatisiert. Asefaw findet vielmehr, das Thema erfordere eine differenzierte Betrachtung: einen Blick auf die in vielen afrikanischen Ländern verbreitete Praxis, welcher die Würde der Frauen bewahrt. Die Ärztin ist zwar eine entschiedene Gegnerin der Beschneidung: Diese wird in Eritrea wie andernorts in Afrika von traditionellen Hebammen und älteren Beschneiderinnen durchgeführt, ohne Anästhesie und unter unhygienischen Bedingungen, was bei den Mädchen oft zu Infektionen führt, die gar tödlich enden können.

Fana Asefaw betont aber, beim Umgang mit Migrantinnen müsse man unbedingt auch den kulturellen Kontext der Genitalbeschneidung berücksichtigen. «Die meisten beschnittenen Frauen empfinden sich als vollständig», sagt die Ärztin. Die identitätsstiftenden Werte der Beschneidung hätten für sie eine grössere Bedeutung als gesundheitliche Komplikationen oder körperliche Versehrtheit. Um die Praxis aus der Welt zu schaffen, sei es «unabdingbar, sich mit den Werten, die symbolisch fu?r die weibliche Genitalbeschneidung stehen, auseinanderzusetzen – ohne dabei die schwerwiegenden Folgen fu?r die betroffenen Frauen zu vernachlässigen», schreibt Asefaw in ihrer Dissertation.

Kolonialistischer Blick auf Afrika

Sie selbst trägt beide Kulturen in sich. Sie war ein kleines Mädchen, als sie mit ihren Eltern und den beiden Schwestern in den 1980er-Jahren vor den äthiopischen Besatzern in Eritrea nach Deutschland floh. Die Familie liess sich in Überlingen am Bodensee nieder. Dort machte sie das Abitur, studierte danach Medizin und schrieb an der Berliner Charité ihre Dissertation. Vor zehn Jahren zog sie mit ihrem Ehemann in die Schweiz. Mittlerweile hat Asefaw selbst zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, acht und sieben Jahre alt. «Ich liebe meine Kinder über alles und bin als ganz normale Mutter sehr verletzlich», sagt sie. Die berufliche Perspektive sei ihr trotzdem wichtig. «Ich stamme aus einer Kultur, in der es Frauen traditionell nicht zusteht, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu verwirklichen. Sie werden früh aufs Dasein als Ehefrau und Mutter vorbereitet. Mir ist aber schon als Kind in Eritrea bewusst geworden, dass Frauen sehr stark sind, unabhängig von Herkunft und ­Bildungsstand.»

Seit der Niederschrift ihrer aufwendigen Dissertation und durch ihr Engagement für Migrantinnen hat Fana Asefaw ihre Argumente zugespitzt. Sie hege den Verdacht, sagt sie in ihrem Büro in Littenheid – wobei eine Spur von Empörung in ihrer samtenen Stimme mitschwingt –, dass die weibliche Genitalbeschneidung vielen Europäern als «Lizenz» diene, um einen kolonialistischen Blick auf Afrika zu richten und so ein antiquiertes Bild seiner Bewohner und Bewohnerinnen zu pflegen. Wie zum Beispiel bei der eingangs erwähnten Zentrumsleiterin des Asylheims, die aus angeblicher Sorge ein somalisches Mädchen demütigte. «Früher stellte man Afrikaner in den Zoo», sagt Fana Asefaw, «heute ist man erpicht auf die Bilder von Afrikanerinnen und ihren beschnittenen Genitalien, über die man sich entsetzen darf.» Dabei werde tunlichst ausgeblendet, dass unter dem Diktat der Schönheitschirurgie auch in der westlichen Kultur Genitalien manipuliert würden – mit Schamlippenverkleinerungen, Vaginaverengungen und mehr.

Am Ende unseres Treffens steht die Frage noch immer im Raum: Wie steht es um ihre eigene Betroffenheit? Fana Asefaw schüttelt den Kopf. «Meine Mutter hat mich und meine Schwestern vor der Beschneidung geschützt – aus Überzeugung, dass dies gesünder ist.» Stattdessen habe die Mutter ihre Töchter von klein auf angehalten zu lernen; um eigenständig und unabhängig zu werden, nötigenfalls auch von einem Mann. «Obwohl sie selbst die Möglichkeit nicht hatte, erzog sie ihre Töchter zu selbstbestimmtem Denken», sagt Fana Asefaw. «Das ist ein starkes Gefühl.» (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 11.01.2016, 10:57 Uhr)

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