"Das Psychologie-Buch" bietet eine ansprechend gestaltete Übersicht über die knapp 150-jährige Geschichte der "Seelenkunde"
Die heutige Wirkmacht der Psychologie steht in deutlichem Gegensatz zu ihrem Alter als eigenständige Disziplin. Ist die Psychologie im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Fächern doch ein noch recht junger Hüpfer auf dem akademischen Terrain. Dennoch hat sie mit ihren Erkenntnissen, die gelegentlich auch - wie könnte es anders sein - durch neuere Erkenntnisse als Irrtum erkannt wurden, in ihrer kurzen Geschichte die Denk- und Verhaltensweisen enorm beeinflusst und verändert.
Die Forscherpersönlichkeiten der Psychologie haben Beachtliches dazu beigetragen, das menschliche Tun und Lassen in Licht wie Schatten, all seinen Fortschritten wie Irrungen und Wirrungen besser zu verstehen und nachzuvollziehen. Leistet der Mensch im einen wie im anderen doch Faszinierendes wie Erschreckendes. Wie das der antike griechische Dichter Sophokles in den berühmten Anfangszeilen des Chores in seiner Tragödie Antigone ausgedrückt hat: "Viel Gewaltiges lebt. Doch gewaltiger nichts als der Mensch."
Junge Wissenschaft
Vor dem Hintergrund der heute reichhaltig vorhandenen wissenschaftlichen wie populärwissenschaftlichen psychologischen Literatur, von den unzähligen psychologisch beeinflussten Esoteriktiteln ganz zu schweigen, ist es beinahe nicht zu glauben, dass die Psychologie als eigenständige Forschungsrichtung noch ein so junger Hüpfer ist. Entwickelte sie sich doch erst am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Fach - oder löste sie sich von ihm -, das letztendlich die Mutter aller Wissenschaftsdisziplinen ist: der Philosophie. 1879 gründete Wilhelm Wundt an der Leipziger Universität das weltweit erste Institut für experimentelle Psychologie. Und machte die Psychologie damit zu einer eigenständigen Wissenschaft.
Knapp 150 Jahre später spüren die Vertreter des Faches den alten psychologischen Grundfragen in zunehmend breiterer Auffächerung nach: Was treibt uns Menschen an und um? Was bewegt uns und wozu? Was lässt uns entgleisen? Wie kommen wir mit uns selbst, den anderen, einer Welt im unablässigen Wandel zurecht? Beginnend mit einem Kapitel "Philosophische Wurzeln" informiert das Buch in den folgenden Abschnitten über "Behaviorismus - Wie auf unsere Umwelt reagieren", über "Psychotherapie - Das Unbewusste bestimmt das Verhalten", "Kognitive Psychologie - Das rechnende Gehirn", "Sozial- und Entwicklungspsychologie - Das Zusammenleben mit den anderen", die "Entwicklungspsychologie - Vom Säugling zum Erwachsenen" und die "Differentielle Psychologie - Persönlichkeit" bis hin zu "Differenzielle Psychologie - Persönlichkeit und Intelligenz".
Ende 1995
Bedauerlich im Blick auf dieses aufschlussreiche, empfehlenswerte Buch ist, dass die nach wie vor stürmische Entwicklung dieses Fachs nicht aktuell bis in unserer Zeit hinein vorgestellt wird, sondern um 1995 aufhört. Unter anderem die aus der Hirnforschung in die Psychologie einfließenden Erkenntnisse sind es allemal wert, in einer nicht auszuschließenden weiteren Auflage unter dem Aspekt "Neuropsychologie" vorgestellt zu werden.
Auch die Arbeitspsychologie verdiente ein ihrer wachsenden Bedeutung entsprechendes näheres Eingehen. Gleichwohl, den grundsätzlichen Wert des Buchs schmälert das nur unwesentlich. Erläutert Das Psychologie-Buch doch immerhin mehr als 100 ausschlaggebende Theorien und Konzepte der Psychologie und macht mit deren Urheber bekannt.
Und es trägt damit dazu bei, in einer Welt, die immer mehr vom Moment vorgegebenen Informationen und immer weniger von wirklichem Wissen und auf tatsächlichen Zusammenhängen beruhenden Fakten gesteuert wird, den Blick über den engen Horizont des Jetzt hinauszuführen und weniger aufgeregte, abgewogenere Urteile zu ermöglichen.
Sollten in diesem Zusammenhang doch beispielsweise frühe Untersuchungen zu Zeugenaussagen der heute an der Universität von Kalifornien lehrenden Psychologin Elizabeth Loftus nachdenklich stimmen: "Die menschliche Erinnerung arbeitet nicht wie ein Videogerät oder eine Filmkamera." Wir glauben, dass unsere Erinnerung beispielsweise an ein traumatisches Ereignis zuverlässig ist. Wegen seiner emotionalen Bedeutung scheinen wir uns lebhaft an das Ereignis zu erinnern. Doch "selbst wenn wir von etwas zutiefst überzeugt sind, ist es nicht zwingend auch wahr".
Mit ihren Forschungen revolutionierte Loftus die Gedächtnisforschung. Ein Klassiker auf dem Gebiet einschlägiger Irrtümer ist das Buch des 1921 in Villach geborenen (und im März 2007 in Palo Alto gestorbenen) Kommunikationswissenschafters, Psychotherapeuten und späteren Stanford-Professors Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. Jüngst ist im Piper Verlag die zwölfte Auflage der Taschenbuchausgabe erschienen.
Erleben und verhalten
Doch was genau bedeutet das Wort "Psychologie", das in zahlreichen Begriffen mit der Vorsilbe "Psycho-" allenthalben auftaucht? Abgeleitet ist es vom Altgriechischen "psyche" (Seele, Hauch, Atem) und "logos" (Lehre, Wissenschaft). Der deutsche Begriff "Seelenkunde" geht auf diese Kombination zurück. Wenn sich auch selbst die Zunft der Psychologen mit einer einheitlichen Definition des Begriffs "Psychologie" schwertun, so dürfte doch "Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen" eine zutreffende Beschreibung sein.
Diese Deutung dürfte dem, worum sich die Psychologie so facettenreich kümmert, am nächsten kommen: den geistig-seelischen Vorgängen im Menschen sowie deren Ausdruck im menschlichen Denken und Verhalten. (Hartmut Volk, DER STANDARD, 24./25.8.2013)