„Joseph und seine Brüder“ im Deutschen Theater

von Andreas Schäfer

„Joseph und seine Brüder“ im Deutschen Theater

„Joseph und seine Brüder“, fast 2000 Seiten, vier Bände, an denen Thomas Mann 16 Jahre lang arbeitete, von 1926 bis 1942. Er schrieb nicht nur wegen der Pausen so lange, die ihm die Emigration aufnötigte, sondern auch wegen seines voluminösen Anspruchs: Nach dem „Zauberberg“ wolle er den Schritt vom „Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-Typischen“ tun, also eine Psychologie des „mythischen Bewusstseins“ entwickeln. Um die „Brunnentiefe der Zeiten“ auszuleuchten, benötigt es viel von selbiger.

Der größte Unterschied zwischen der bürgerlich-individuellen und der mythischen Gesellschaft (so wie wir sie uns denken) besteht im unterschiedlichen Erleben der Zeit. Unsere Zeit schreitet pfeilartig voran, während die Zeit des Mythos sich in Kreisen bewegt und in Mustern der Wiederholung Schuld (oder was auch immer) von einer Generation an die nächste weitergibt. Natürlich ist diese Differenzierung selbst ein Mythos. Um etwas über den Kreismodus zu erzählen, braucht man sich nicht ins Alte Ägypten hinunterzukämpfen, es genügt, die Kellertür zu öffnen und drei schnelle Schritte in den Raum der Neurose zu machen. Die Muster sind die gleichen. Freilich macht eine Geschichte aus der alten Zeit mehr her. Man ist nun Epiker, nicht nur Romancier.

Apropos Hermachen. Muss man dieses Großwerk, das – angereichert mit unzähligen Beigeschichten und Reflexionen – am Beispiel des schönen Jünglings Joseph die Geschichte von Hochmut und Fall, von Rache der benachteiligten Brüder und Vergebung durch den geläuterten Helden erzählt, auf die Bühne eines Theaters bringen? Natürlich nicht. Aber es macht etwas her und spricht all die an, die vielleicht die „Buddenbrooks“ und den „Zauberberg“ gelesen haben, aber „Joseph und seine Brüder“ nicht. Praktisch: ein Hörbuch mit Bildern, bei dem sogar (Mythos gleich Kreis!) die Drehbühne ausgiebig zum Einsatz kommt. Es besteht nur die Gefahr, dass bei der notwendigen Verknappung ein etwas monotones Stationenabhaken und bei dem Versuch, ein allgemeingültiges Urdrama zu erzählen, über den ausgiebigen Symbolgebrauch von Farbe die liebliche Ästhetik eines stilisierten Märchens herauskommt. Als solches hat die niederländische Regisseurin Alize Zandwijk die Bühnenfassung von John von Düffel am Deutschen Theater inszeniert.

Am Anfang, als die Handlung noch in der archaischen Hirtenwelt spielt und die komplizierten Zusammenhänge und Sympathieverteilungen in der Familie Jakobs (Jörg Pose mit infantilisierendem Singsang) vorgestellt werden, ist alles noch schwarz oder weiß. Später, als der verstoßene Joseph in Ägypten am Hof des Pharaos zum Wesir aufsteigt, kommt, wegen der differenzierteren Gesellschaft, Farbe ins Spiel. Die vielen Zeitsprünge werden als Schattenspiel in Zeitlupe hinter einen Vorhang verlagert. Drei Stunden, das ist lang und kurz zugleich. Die Schauspieler ironisieren, um die Zuschauer bei der Stange zu halten, aber nicht zu sehr, um den Ernst der Geschichte zu gewährleisten. Eigentlich ist nichts gegen die Inszenierung zu sagen – Thorsten Hierse als erst überheblicher und dann aufrichtig vergebender Joseph beeindruckt und Natali Seelig macht sich, als Hof-Zwerg auf den Knien rutschend, einen großen Spaß. Die Geschichte wird auf verständliche Weise vorgespielt.

Genau deswegen spricht aber nicht viel für den lauwarmen Abend, bei dem zum Schluss noch einmal die Theatertechnik zeigen darf, was sie kann: Vergebungsshowdown unter schwarz werdenden Schäfchenwolken und geheimnisvoll vertrocknendem Plastikblumenmeer. Über die Wucht mythischer Zusammenhänge erfährt man in jedem Kammerspiel mehr. Andreas Schäfer

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