Zur Person:
Prof. Dr. Georg Rudinger, geboren 1942 in Leipzig, war von 1974 bis 2010 als Professor für das Fach Psychologie am Institut für Psychologie der Universität Bonn tätig. Seine Forschungsgebiete erstrecken sich von statistischen Modellen und Evaluation bis zu einer Vielzahl von Projekten aus den Bereichen Mobilität, Technik und Alter. Er hat zu diesen Themen zahlreiche Publikationen verfasst. Zurzeit ist Rudinger Sprecher des Zentrums für Alterskulturen (ZAK), das er 2002 gegründet hat.
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Die Erkenntnis, am Steuer womöglich zum Sicherheitsrisiko zu werden, fällt älteren Menschen extrem schwer. Manche verpassen womöglich den richtigen Zeitpunkt, ihren Führerschein abzugeben. Ein schleichender Prozess, wie Professor Bernhard Schlag, Verkehrspsychologe der Technischen Universität Dresden, kürzlich verkündete. Wie sehen Sie das?
Georg Rudinger: Dies ist eine übergeneralisierende und damit falsche, im Grunde also "altersdiskriminierende" Aussage, wie ich hoffe, im Folgenden aufzeigen zu können.
Was ist das Ziel Ihrer Arbeit?
Rudinger: Ziel ist es, die Mobilität und damit die Selbstständigkeit von Senioren so lange wie möglich zu erhalten. Aus diesem Grund befassen sich unsere Experten aus verschiedenen Disziplinen mit altersgerechter Städte- und Raumplanung. Barrierefreiheit und benutzerfreundliche öffentliche Verkehrsmittel spielen dabei ebenso eine zentrale Rolle wie alles, was mit dem motorisierten Individualverkehr zusammenhängt. Unsere Experten sind sich einig, wie wichtig es ist, generationsübergreifende Konzepte und gleichzeitig Handlungsempfehlungen mit praktischen Tipps zu entwickeln. Dabei sollten Senioren selber in die Planung mit einbezogen werden, damit die Konzepte auch ihren Bedürfnissen und Wünschen gerecht werden.
Sie stellen fest, dass Senioren am Steuer öfter Opfer als Täter sind - welche Zahlen belegen das?
Rudinger: Die Statistiken - genau betrachtet - widerlegen den Mythos eines generell besonders hohen Unfallrisikos bei älteren Fahrern weitgehend, da das Unfallrisiko von Senioren nur halb so hoch ist wie das der Gesamtbevölkerung. Daten zur Unfallbeteiligung von Senioren im Straßenverkehr machen deutlich: Ein gesonderter Handlungsbedarf für restriktive Maßnahmen ausschließlich und generell für ältere Kraftfahrer lässt sich aus den statistischen Unfalldaten nicht ohne weiteres ableiten. Im Gegenteil: Ältere Menschen treten vor allem als Gefährdete mit stark erhöhtem Verletzungs- und Todesrisiko in Erscheinung, wobei insbesondere das enorme Risiko der älteren Fußgänger auffällt. In dieser Hinsicht sind die älteren Menschen heute bereits in der Tat ein erhebliches Problem: Von allen getöteten Fußgängern und Fahrradfahrern sind ungefähr 50 Prozent älter als 65 Jahre.
Sie sprechen von Kompensationsstrategien älterer Autofahrer, um im Straßenverkehr zurecht zu kommen. Welche sind das zum Beispiel?
Rudinger: Ohne Frage haben viele ältere Verkehrsteilnehmer altersbedingte Einbußen. Sie sehen schlechter, ihre Motorik lässt nach und verschiedene Medikamente führen zu Nebenwirkungen, die sich auf ihre Fahrtüchtigkeit auswirken können. So werden Ältere in ihrer Leistungsfähigkeit wegen dieser Einschränkungen häufig unterschätzt. Aber sie entwickeln Strategien, um diese zu kompensieren. So fahren sie eher tags als nachts und meiden Fahrten bei schlechtem Wetter.
Was spricht gegen verbindliche Altersüberprüfungen?
Rudinger: Es müsste nachgewiesen werden, dass das Kollektiv der älteren Kraftfahrer ein größeres Gefahrenpotenzial darstellt als andere Altersgruppen. Aus den aktuellen Unfallstatistiken ergeben sich insgesamt keine überzeugenden Argumente für obligatorische behördliche Maßnahmen. Offensichtlich sind ältere Fahrer in der Lage, altersbedingte Beeinträchtigungen aufgrund langjähriger Fahrpraxis durch eine angepasste Fahrweise auszugleichen. Ältere fahren also nicht schlechter als Jüngere, sie fahren anders. Bemerkenswert ist auch, dass viele ältere Kraftfahrer in realistischer Einschätzung der eigenen Fahreignung das Autofahren von sich aus begrenzen oder ganz darauf verzichten. Unter diesen Gesichtspunkten ist eine Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt.
Sie schlagen vor, den Hausarzt quasi als Navigator einzusetzen. Fahrtauglichkeit als Kassenleistung?
Rudinger: Insgesamt gibt es große individuelle Unterschiede im Alterungsprozess, wann und in welchem Grade die Fahrtüchtigkeit nachlässt, so lautet das Fazit der Studie. Deshalb wenden sich die Autoren gegen gesetzliche Fahrtüchtigkeitstests bei einem bestimmten Alter. Stattdessen plädieren sie für ein Beratungskonzept, in welchem dem Hausarzt eine Schlüsselrolle zufällt. Er soll die Senioren individuell über krankheitsbedingte Gefahren und über mögliche Nebenwirkungen von Medikamenten informieren. Als erster Ansprechpartner trägt er dazu bei, dass Tipps der Alternsforscher ankommen und auch angenommen werden. So können Menschen noch bis ins hohe Alter mobil bleiben und ein großes Stück Lebensqualität erhalten. Es geht nicht um Kassenleistung, sondern um Selbstverantwortung.
Was ist zu tun, um Senioren am Steuer den Alltag im Verkehr erleichtern?
Rudinger: Unsere Experten empfehlen die Gründung von Netzwerken, bestehend aus Seniorenbüros, Fahrlehrern und Hausärzten. Sie könnten geeignete Schulungen und Trainings für Senioren durchführen und damit deren Sicherheit im Straßenverkehr erhöhen. Wir brauchen eine Verkehrsumwelt, die allen Bevölkerungs- und Altersgruppen eine Mobilität ermöglicht, die Lebensqualität bedeutet - und die Potenziale des Alters nutzt.
Die Publikation: Georg Rudinger und Kristina Kocherscheid: Ältere Verkehrsteilnehmer - Gefährdet oder gefährlich? Defizite, Kompensationsmechanismen und Präventionsmöglichkeiten. Bonn University Press bei VR unipress, 250 Seiten, 40,90 Euro, ISBN: 978-3-89971-885-0, im Buchhandel erhältlich.