Wer glaubt, im Alter verlieren wir den Verstand, irrt. In mancher Hinsicht werden wir sogar intelligenter
Wie kann es sein, dass der Fünfjährige das Computerspiel sofort begreift, die Mutter sich dagegen erst mühsam hineindenken muss? Wieso ist der Vater auf die Hilfe seiner Kinder angewiesen, wenn der Laptop streikt? Und warum kann die Oma keine SMS schreiben? Sind die Jungen heute klüger als die Alten? Schwindet unsere geistige Kapazität, wenn wir älter werden?
Nein, sagen Intelligenzforscher, zumindest nicht zwangsläufig. Im Gegenteil: Sie kann sogar noch wachsen.
Der Psychologe Raymond Bernard Cattell hat die intellektuelle Leistungsfähigkeit mit einem Modell beschrieben, das in der Psychologie heute weit verbreitet ist und viele Beobachtungen erklären kann. Demzufolge verfügt der Mensch über eine "fluide" und eine "kristalline" Intelligenz. Beide sind eng miteinander verknüpft und doch sehr unterschiedlich. Die fluide Intelligenz ist uns weitgehend in die Wiege gelegt. Dazu zählen eine schnelle Auffassungsgabe und ein gutes Gedächtnis. Mit seiner Hilfe gelingt es Kleinkindern, erstaunlich schnell sprechen zu lernen und sich ohne Vokabelpauken einen Wortschatz anzulegen. Wer in fortgeschrittenem Alter noch einmal eine neue Sprache lernt, kann das nur bewundern. Denn im Laufe des Lebens geht die fluide Intelligenz zurück. "Ab etwa 25 Jahren nimmt sie immer mehr ab", sagt der Psychologie-Professor Detlef Rost von der Philipps-Universität in Marburg. Kein Grund zur Sorge: "Die kristalline kann dafür noch lange wachsen." Sie nehme erst mit 60, 70 Jahren oder noch später ab – bei manchen Menschen nie.
Die kristalline Intelligenz umfasst unter anderem das verbale Ausdrucksvermögen, das Fachwissen und die soziale Kompetenz. Sie beruht auf Übung, setzt Gelerntes zueinander in Beziehung und wird kulturell beeinflusst. Der Entwicklungspsychologe Paul Baltes, einst Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, nannte sie "die Pragmatik der Intelligenz" – im Gegensatz zur fluiden Mechanik des Geistes, die die Geschwindigkeit und Genauigkeit der Informationsverarbeitung bezeichnet. In jungen Jahren, wenn die Mechanik noch gut funktioniert, nutzen wir die fluide Intelligenz zur Aneignung von Wissen. Die kristalline Intelligenz verknüpft dieses Wissen. So entsteht Erfahrung. "Ein großer Schatz an Erfahrung kann den biologischen Abbau der intellektuellen Leistungsfähigkeit sogar überkompensieren", sagt Detlef Rost.
Welchen Beitrag fluide und kristalline Intelligenz jeweils zu unseren geistigen Fähigkeiten leisten, verschiebt sich im Laufe des Lebens. Der sogenannte Generalfaktor, der sich aus beiden zusammensetzt, bestimmt den Intelligenzquotienten (IQ), und der IQ bleibt nicht ein Leben lang gleich. Er beziffert lediglich, wie intelligent ein Mensch im Vergleich zu Gleichaltrigen aus demselben Kulturkreis ist. Dafür muss ein Intelligenztest mithilfe einer repräsentativen Gruppe normiert werden. Als normal gilt ein Quotient zwischen 85 und 114. Der Test muss so ausgerichtet sein, dass 68 Prozent der betreffenden Altersgruppe in diesem Normbereich liegen. Nur jeweils 2,1 Prozent dürfen weniger als 69 oder mehr als 130 Punkte erreichen. "Wenn Kinder mit 8, 12 und 16 Jahren immer den gleichen IQ haben, sagt das nichts über ihre tatsächliche Leistungsfähigkeit", erklärt Rost. "Sie sind nur stabil in der Rangfolge geblieben." Sie haben sich im Vergleich zu ihren Altersgefährten vollkommen durchschnittlich entwickelt. Entsprechend kann man auch nicht beurteilen, ob die Intelligenz ab einem bestimmten Alter abnimmt, indem man den IQ von 20-Jährigen mit dem von 70-Jährigen vergleicht.
Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass die durchschnittliche Intelligenz von Generation zu Generation zugenommen hat. So wie die körperliche Leistungsfähigkeit des Menschen immer weiter steigt und Sportler immer neue Weltrekorde aufstellen, so wächst auch die geistige Kapazität. Deshalb müssen IQ-Tests regelmäßig neu justiert werden. Wissenschaftler nennen diesen Anstieg der durchschnittlichen Intelligenz den Flynn-Effekt, benannt nach dem Intelligenzforscher James Flynn. Besonders stark ist er in den Entwicklungsländern, parallel zum Anstieg der Lebenserwartung. Genau wie die körperliche sei die geistige Leistungsfähigkeit gestiegen, weil sich die Menschen immer gesünder ernährten, meinen Experten. Außerdem habe die bessere Schulbildung einen "dramatischen Einfluss", so Rost. "Früher wurde nur stur auswendig gelernt, jetzt wird kritisches Denken gefördert." Dadurch erkennen die Menschen Gesetzmäßigkeiten und Widersprüche eher, was sich in der Intelligenz niederschlage.
Das muss bedenken, wer eine sinkende Intelligenz im Alter fürchtet. "Die Abbauprozesse werden häufig überschätzt", sagt Rost. "Man muss ja berücksichtigen, dass die heute 85-Jährigen im Schnitt eine viel schlechtere Schulbildung hatten als nachfolgende Generationen." In Raymond Cattells Modell heißt das: Sie konnten ihre fluide Intelligenz nicht in dem Maße in die kristalline investieren und den Rückgang nicht so ausgleichen, wie es theoretisch möglich gewesen wäre.
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