Wie tickt ein Hirnchirurg? Auf beeindruckende und faszinierende Weise beantwortet Henry Marsh diese Frage in seinem Buch «Um Leben und Tod». Der Brite nimmt kein Blatt vor den Mund – bei seinen eigenen Fehlern ebenso wenig wie gegenüber Regierung und Klinikmanagement. Zum grossen Glück für den Leser kann er sich das erlauben: Marsh ist einer der führenden Neurochirurgen Grossbritanniens und Träger des britischen Verdienstordens.
Gleich zu Beginn stellt Marsh klar: «Das Leben eines Hirnchirurgen ist alles andere als langweilig und kann zutiefst bereichernd sein, doch es hat seinen Preis. Man macht zwangsläufig Fehler, und man muss lernen, mit den bisweilen entsetzlichen Konsequenzen zu leben.»
Immer wieder sind ausführliche OP-Berichte eingestreut – deren Lektüre nichts für schwache Nerven ist. Auch persönliche Erfahrungen wie der Tod seiner Mutter und die Erkrankung seines Sohnes, der als Baby einen Tumor im Kopf hatte, fliessen in die Erzählungen ein. Marsh gibt unumwunden zu, sich gerade als junger Chirurg allmächtig und von den Patienten klar unterschieden gefühlt zu haben. Auch eine Szene aus einem Supermarkt verdeutlicht das: «An der Kasse reihte ich mich in die lange Schlange von Leuten ein, die ebenfalls anstanden. ‹Und, was habt IHR heute getan?›, hätte ich sie am liebsten gefragt. Es ärgerte mich, dass ich, ein bedeutender Neurochirurg, der einen sehr erfolgreichen Arbeitstag hinter sich hatte, wie alle anderen warten musste.» Mit zunehmendem Alter allerdings könne er nicht mehr leugnen, aus demselben Fleisch und Blut wie seine Patienten zu sein, und empfinde inzwischen ein tieferes Mitgefühl für sie als früher.
So manche hehre Vorstellung über die Arbeit der «Halbgötter in Weiss» dürfte nach Lektüre des Buches passé sein. Zur Hirn-OP einer Hochschwangeren etwa ist zu lesen: «Ärzte und Krankenschwestern geniessen dramatische Fälle wie diesen, daher herrschte an jenem Morgen eine ausgelassene, fast karnevalsartige Atmosphäre auf der Station.» Es passiere eben nicht oft, dass in einem neurochirurgischen Operationssaal ein Kind auf die Welt komme.
Macht und Status
Marsh erzählt, er sei nicht aus einem Gefühl der Berufung heraus Arzt geworden, sondern weil er sich in einer Lebenskrise befunden habe. «Die Tätigkeit war interessant und aufregend, ohne dass man dafür auf einen sicheren Arbeitsplatz verzichten musste, sie verlangte eine Mischung aus handwerklichen und intellektuellen Fähigkeiten und brachte zudem noch Macht und gesellschaftlichen Status mit sich.»
Marsh schont sich nicht – und kritisiert ebenso unverdrossen die Regierung für das Gesundheitswesen, die Klinikverwaltung für die üblen Zustände in seinem Haus und den Umgang von Kollegen mit OP-Fehlern. «Ärzte müssen zur Verantwortung gezogen werden können, denn Macht korrumpiert. Es muss Beschwerdeverfahren und die Möglichkeit zu klagen geben, genauso wie es Untersuchungsausschüsse, Strafen und Schadenersatz geben muss.»
Der Sohn einer Patientin habe ihn einmal gefragt: «Was würden Sie tun, wenn es um Ihre Mutter ginge?» Das sei genau die Frage, die alle Patienten ihrem Arzt stellen sollten, betont der Chirurg. Viel zu oft scheuten sie sich davor, um ihrem Arzt nicht zu vermitteln, seine Empfehlungen würden in Zweifel gezogen.
Marshs Bericht ist selbstkritisch, humorvoll und informativ. Erschütternd sind die Passagen zu Missständen an Kliniken, faszinierend diejenigen zu anspruchsvollen Eingriffen, berührend die Schicksale einzelner Patienten. «Um Leben und Tod» ist eines der besten Medizinbücher der vergangenen Jahre.
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 12.06.2015, 09:28 Uhr)