Als Bernadette Frisch* die Diagnose ADHS bekam, war sie 28 Jahre alt. „Ich war total geschockt“, berichtet die heute 30-Jährige. Als Kind war ihr Verhalten nie mit der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung in Verbindung gebracht worden - es schien eher wie das Gegenteil des Zappelphilipp-Syndroms. Langsam sei sie gewesen, verträumt, unsicher, tollpatschig.
Im Studium wuchsen ihre Probleme: Sie bekam Angstzustände, wurde depressiv, war wegen eines Professors einem Nervenzusammenbruch nahe. „Ich kann mich unglaublich schlecht organisieren“, erzählt sie. Ihre Wohnung sei chaotisch, ihr Leben eine ewige Baustelle. Heute ist die Fränkin 30 Jahre alt und noch immer auf der Suche nach ihrem Weg.
Auf ein kurzfristiges Ziel kann sie sich extrem gut konzentrieren. „Ich kann mich total auspowern, aber ich kann nicht einen Schritt nach dem anderen tun“, erzählt sie. Wenn sie in einer Sache drinsteckt, arbeitet sie bis zur totalen Erschöpfung. Wird sie aber unterbrochen, findet sie nicht die Kraft, neu anzufangen. Dann schlägt etwas anderes ihre Aufmerksamkeit in Bann.
„Unglaublicher innerer Druck“
„Ich stehe immer unter einem unglaublichen inneren Druck.“ Das merkt man Bernadette Frisch an, sie spricht schnell und viel. Motorisch ist sie ruhiger als früher und auch ihr extrovertiertes Auftreten und ihr flippiges Aussehen sind nicht mehr so ausgeprägt. Sie arbeitet in einem künstlerischen Beruf, da passte ihre Art „ins Bild“, sagt sie. „Mit dem Verrückter-Künstler-Mythos kann man sich das ja auch selbst schönreden.“
Vor zwei Jahre schlug eine Psychiaterin vor, einen ADHS-Fragebogen zu machen: Sie war ein typischer Fall. Bei Erwachsenen sieht ADHS anders aus als bei Kindern, erklärt Prof. Andreas Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Frankfurter Uniklinik. In Würzburg hatte er den klinischen Schwerpunkt für ADHS im Erwachsenenalter geleitet. Als er im Sommer 2014 nach Frankfurt wechselte, zog seine ganze Arbeitsgruppe mit ihm um.
Innere Unruhe, Impulsivität
Drei Hauptsymptome nennt Reif: innere Unruhe, Impulsivität und Schwierigkeiten, Aufmerksamkeit und Stimmung zu regulieren. Dabei kann das Pendel auf beide Seiten ausschlagen: Patienten sind einerseits extrem leicht ablenkbar - oder sie „überfokussieren“ ein Detail. In manchen Bereichen kann das sogar hilfreich, zum Beispiel im Sport, wie beim Schwimmer Michael Phelps, der ADHS-Patient ist.
„Viele suchen das Extreme, den Kick. Wer in der Lage ist, das positiv zu nutzen, ist zu Höchstleistungen fähig“, erklärt Reif. „Man kann sagen: Diese Patienten bringen unsere Gesellschaft schon auch weiter.“ Aber auch bei Strafgefangenen finde man überdurchschnittlich viele Menschen mit ADHS. „Den einen bringt die Krankheit ins Gefängnis, den anderen aufs Podest - je nachdem, was an Lebensgeschichte und Biologie noch hinzukommt“, formuliert der Psychiater provokant.
Bei etwa der Hälfte der ADHS-Kinder verschwindet die Krankheit beim Heranwachsen. Der Großteil der anderen Hälfte behält einzelne Symptome, ohne dadurch krank zu sein. „Nur bei 15 Prozent haben die Symptome Krankheitswert. Das entspricht etwa einem Prozent der Bevölkerung“, rechnet Reif vor.
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