Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) wird gerne dafür kritisiert, Zahlen zu hoch anzusetzen, wenn es darum geht, Präventionsanliegen wie die saisonale Grippeimpfung beliebt zu machen. Im vergangenen Herbst lag das Amt aber mit seiner Einschätzung erheblich zu tief. Beim Aufruf zur alljährlichen Grippeimpfung war die Rede von jährlich bis zu 1500 Todesfällen als Folge von Influenza. Wie das Bundesamt für Statistik (BFS) nun bekannt gab, verstarben in der Saison 2014/15 jedoch ganze 2200 Personen, 17 Prozent mehr, als aufgrund der Zahlen der Vorjahre zu rechnen war. Betroffen waren dabei fast ausschliesslich über 65-Jährige.
Die ungewöhnlich hohe Übersterblichkeit fand von der zweiten bis zur zwölften Woche des Jahres statt. Auf dem Höhepunkt, in der Woche vom 9. bis zum 15. Februar, waren die Werte bei den über 65-Jährigen sogar um fast ein Drittel erhöht. «Das ist erheblich über dem, was wir normalerweise erwarten», sagt Daniel Koch, Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim BAG. Auch Christoph Junker, Leiter Vitalstatistik und Epidemiologie beim Bundesamt für Statistik (BFS), bestätigt: «Solche Abweichungen sind recht ungewöhnlich.» Es seien ähnliche Zahlen wie im Hitzesommer 2003. In der Grippesaison 2013/14 war die Sterblichkeit dafür ungewohnt tief: Während des ganzen Jahres ereigneten sich auf etwa 65 000 Todesfälle insgesamt 1600 Fälle weniger als erwartet.
Gut geimpfte über 65-Jährige
Medienberichte haben bereits vor einigen Wochen darauf hingedeutet, dass die vergangene Grippewelle besonders aggressiv war. Das Zürcher Stadtspital Waid meldete einen Anstieg der Todesfälle im Vergleich zum Vorjahr. Ähnliches zeichnete sich in den Sterbestatistiken der Stadt Zürich und des Zivilstandskreises Baden AG ab. Spitäler berichteten zudem von mehr hospitalisierten Grippefällen.
Offen ist, inwieweit die dieses Jahr weniger wirksame Impfung zur schweren Saison beigetragen hat. «Das lässt sich nicht abschätzen», sagt Daniel Koch vom BAG. Ein Einfluss lasse sich nicht ausschliessen, denn bei den über 65-Jährigen sei die Durchimpfung vergleichsweise gut, so Koch. «Je älter die Personen sind, desto höher der Wert.»
Bereits vor zwei Jahren war die Grippewelle intensiv. Damals liessen sich in der Schweiz hochgerechnet 265'000 Personen mit einer grippalen Erkrankung von einem Hausarzt versorgen. Wie sich nun aber zeigt, war damals die Übersterblichkeit gerade mal halb so hoch wie in der jüngsten Saison. Sie konzentrierte sich auf vier Wochen und betrug insgesamt 1100 Todesfälle, 6 Prozent mehr als erwartet.
Die eigentliche Todesursache ist in der Regel nicht das Influenzavirus selber. «Alle chronisch Kranken im hohen Alter sind durch die zusätzliche Belastung einer Grippeinfektion gefährdet», sagt Stefan Kuster, Oberarzt an der Klinik für Infektiologie des Universitätsspitals Zürich (USZ). Zum Beispiel kann eine Grippeansteckung bei Patienten mit Herzleiden zum vorzeitigen Tod führen. Häufig sterben Betroffene an einer Lungenentzündung, der häufigsten schweren Grippekomplikation. Sie wird durch das Virus selber oder durch eine zusätzliche Infektion mit Bakterien hervorgerufen. Ob es dieses Jahr zu mehr Lungenentzündungen aufgrund von Grippe gekommen ist, müssen spätere Auswertungen zeigen.
Starke Schwankungen
Weil die Grippe meist indirekt zum Tod führt, lässt sie sich als Todesursache auch nur indirekt bestimmen. Statistiker berechnen sie aus der Abweichung der Gesamtsterblichkeit der Bevölkerung von der erwarteten Anzahl Todesfälle. 2015 deckte sich die Periode der Übersterblichkeit zeitlich mit der Grippewelle. «Ein Zusammenhang mit der Grippe gilt denn auch als gesichert», schreibt das BFS. Allerdings nicht ohne Einschränkungen: «Es können aber auch andere Faktoren zur Übersterblichkeit beitragen», sagt Infektiologe Kuster. Zum Beispiel in der gleichen Periode kursierende Viren.
Wie schwer die vergangene Grippesaison im Vergleich zu früheren Jahren war, lässt sich nicht sagen, da in der Schweiz keine entsprechenden Zeitreihen existieren. Das Robert-Koch-Institut veröffentlichte unlängst jedoch Daten zur Grippeübersterblichkeit in Deutschland seit 1984/85. Dabei wird deutlich: Die Übersterblichkeit schwankt stark. Spitzenreiter ist die Saison 1995/96, knapp vor 2012/13. Daneben gibt es Jahre ohne oder mit nur wenigen zusätzlichen Todesfällen. Die Autoren beobachten dabei einen Zusammenhang zu den zirkulierenden Virustypen. Demnach sind H1-Typen, zu denen beispielsweise auch das pandemische Schweinegrippevirus H1N1 gehörte, eher milde. Sind jedoch Influenza-B- oder Influenza-H3-Viren dominant, steigen die Todesfälle. So wie in der Saison 2014/15.
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 11.05.2015, 21:16 Uhr)