Gene sind nicht an allem schuld

Mit unerbittlicher Neugier hat sich der Buchautor, langjährige "Zeit"-Redakteur und Nabokov-Herausgeber Dieter E. Zimmer in verschiedene Sachgebiete hineingeforscht: Psychologie, Biologie, Verhaltensforschung. Im Widerstand gegen die schöngeistige Spekulationsfreude wurde er zum Freund der Fakten. Und er scheut nicht den Gegenwind der Korrektheit. Wer heute etwa sein Buch "Tiefenschwindel" über die Unzulänglichkeiten der psychoanalytischen Theorie liest, stellt fest, wie vorausweisend da jemand schon 1986 gegen den damals noch sehr freud-freundlichen Mainstream agierte.

Jetzt meldet sich Zimmer wieder zu Wort. Es geht um das von Thilo Sarrazin in die politische Debattenzone geholte Thema der Erblichkeit der Intelligenz. Zimmer will keinen weiteren kontroversen Standpunkt einnehmen, sondern die finale "Klarstellung" bieten. Dass die Intelligenz von den komplex zusammenwirkenden genetischen Anlagen in erheblichem Maß mitbestimmt wird, sei heute wissenschaftlicher Nahezu-Konsens: 40 Prozent der Intelligenzunterschiede bei Kindern, 60 bis 85 Prozent bei Erwachsenen resultieren demnach aus den Genen. Die Gegner Sarrazins bekümmerte der Stand der Forschung allerdings wenig. "Dies also schien die Meinung der SPD-Spitze zu sein: Weder Intelligenz noch irgendeine Charaktereigenschaft sind genetisch vorgezeichnet, Biologie spielt im Leben des Menschen keine Rolle." Wer eine andere Meinung vertrete, bewege sich in den Gefilden des "genetischen Unsinns" und des "Biologismus".

Zimmer schreibt nicht jene Art Populärwissenschaft, die sich von einer Fallgeschichte zur nächsten hangelt und so stark vereinfacht, dass man am Ende gar nicht mehr weiß, worin eigentlich das Problem bestand. Man muss sich schon anstrengen bei der Lektüre. Das Buch schlägt eine Schneise durch die Fachliteratur, die wichtigen Stimmen, Standpunkte und Debatten in der Intelligenz-Forschung werden so komprimiert wie zuverlässig referiert.

Zunächst wird der lange Streit um "nature or nurture" in der Intelligenzforschung rekapituliert. Dass es auf Erbe und Umwelt, Anlage und Lernen gleichermaßen ankommt - diese Selbstverständlichkeit wurde von den Erziehungsoptimisten der Sechzigerjahre verabschiedet. Ausgiebig beschäftigt sich Zimmer dann mit den verhaltensgenetischen Studien an getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen. Sie vergegenwärtigen die Durchschlagskraft der Gene: verblüffende, bis in kuriose Details reichende Übereinstimmungen von Menschen, die sich nie zuvor gesehen haben.

Begabungen sind ungleich verteilt, schon rein genetisch kommen viele als Basketballer nicht in Frage. Die größte Diskriminierung ist die Schönheit. Da kann jeder Unhübsche in aller Stille seine Gene verfluchen. Nur bei der Erblichkeit von Intelligenz gibt es Streit. Denn so viel auch gegen den biometrischen Intelligenzbegriff eingewandt wurde, er misst zuverlässig Leistungen des abstrakten Denkens, die vor allem für den Schulerfolg in modernen Gesellschaften entscheidend sind; seine Vorhersagegüte wurde durch immer neue Untersuchungen bestätigt.


Was ist Erblichkeit überhaupt? Zimmer stellt klar: "Erblichkeit ist eine Aussage über ein Kollektiv. Sie ist keine Aussage über einen Einzelmenschen und lässt auch keine Rückschlüsse auf ihn zu. Auf der Ebene des Individuums determinieren die Gene keinen festen IQ, sondern stellen ein Potenzial bereit. Aussagen wie 'Ich verdanke drei Viertel meiner Intelligenz meinen Genen' sind so unsinnig wie 'Mein Pro-Kopf-Einkommen ist 25 000 Euro'." Die Erblichkeit steigt in Umwelten, die die volle Entfaltung des Genotyps erlauben. Deshalb ist die Erblichkeit der Intelligenzunterschiede in der Mittel- und Oberschicht größer als in der Unterschicht, wo viele Kinder vernachlässigt, nicht wenige aber auch ehrgeizig gefördert werden. Auch im Lauf des Lebens erhöht sich die Erblichkeit: In den ersten Jahren ist die vorgegebene familiäre Umwelt entscheidend; ab der Pubertät suchen die Menschen meist selbst die Umwelt auf, die sie anregend empfinden. Anders gesagt: Man wird sich selbst beim Heranwachsen immer ähnlicher, der Genotyp prägt immer stärker den Phänotyp.

Wer bei Unterschieden von ethnischen Gruppen genetische Faktoren in Anschlag bringt, setzt sich dem Rassismusverdacht aus. Könnte die wirtschaftliche Lage eines Landes etwas mit dem Durchschnitts-IQ seiner Bevölkerung zu tun haben? Auf jeden Fall korrelieren Armut und geringerer Durchschnitts-IQ; aber Zimmer betont, dass eine Korrelation keine Kausalität ist und vermutet einen Teufelskreis: Aufgrund der Armut könne das Begabungspotenzial nicht ausgeschöpft und das Bildungsniveau soweit erhöht werden, dass ein Entrinnen aus der Armut möglich wäre. Dass die Staaten südlich der Sahara in Untersuchungen meist auf erschreckend niedrige Länder-IQs kamen, relativiert Zimmer selbst mit einem kulturalistischen Argument: Wo Kinder noch kaum mit abstrakten Problemen in Berührung gekommen sind, wie sie sich in entwickelten Ländern jedem Schulkind stellen, könne sich "g" nicht angemessen entwickeln.

Erst auf Seite 217 wendet sich das Buch Sarrazins Thesen zu. Zimmer attestiert Sarrazin "nebulöse" Aussagen und "fahrlässige Impromptus", etwa in Sachen "jüdisches Gen". Die These der durch den islamischen Traditionshintergrund bedingten Leistungsdemotivation erweist sich als schwächlich: Ob christlich oder muslimisch - nach zuverlässigen Studien scheinen die "Herkunftsländer des Südbalkans (...) das Epizentrum einer ausgedehnten regionalen Mathematikschwäche unbekannter Genese zu sein". Das klingt allerdings dezenter und macht die Grenzen des Empirischen deutlich.

Viele Gegner Sarrazins suchten den Sieg auf Nebenschauplätzen. So fand der Hauptpunkt nur wenig Beachtung: Dass es angesichts der hohen Erblichkeit der Intelligenzunterschiede fatal ist, wenn in einer "Wissensgesellschaft" die Schichten mit durchschnittlich höherem IQ die Reproduktion weitgehend den "Bildungsfernen" überlassen. Diese Sorge wird durch Zimmers Klarstellung bestätigt. Denn "bisher lässt sich weder erzieherisch noch biologisch aus einem Minderbegabten ein Hochbegabter machen."

Man sollte die Begabungsunterschiede akzeptieren und den Benachteiligten durch Förderung helfen, denn selbst kleine IQ-Steigerungen im Rahmen des genetisch vorgegebenen Spielraums machen für den Einzelnen einen Unterschied. Persönliche Lebensschicksale sind etwas anderes als statistische Durchschnittsberechnungen. Ein Bildungs- und Gleichheitsoptimismus aber, der mit den Tatsachen des Lebens in Widerspruch steht, kann zu nichts Gutem führen.

Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung. Rowohlt, Reinbek. 316 S., 19,95 Euro.

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