Wenn es ums Verkaufen von Wertpapieren geht, orientieren sich viele Anleger an den Einstandskursen. Dabei geht es an der Börse immer um die Zukunft.
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Der Autor
Peter Frech hat Psychologie studiert und ist Fondsmanager bei der Quantex AG.
Stichworte
- Aktien
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Ein Franken ist ein Franken, müsste man meinen. Doch zahlreiche Untersuchungen belegen, dass für die meisten Menschen nicht jeder Franken die gleiche Bedeutung hat. Je nachdem, ob sie etwa einen Franken im Lotto gewonnen, hart erarbeitet, an der Börse verspekuliert oder von der sparsamen Tante geerbt haben, wird mit demselben Geldbetrag ganz unterschiedlich umgegangen. Die Forscher im Bereich Behavioral Finance (der Verhaltenswissenschaft, die sich mit Investoren beschäftigt) sprechen dabei von Mental Accounting, einer Art geistiger Buchhaltung: Menschen neigen dazu, im Kopf unterschiedliche mentale Konten zu führen.
Ein Beispiel: Hobbyspekulant Kevin zockt mit 5000 Franken in Optionen. Das Glück ist ihm hold, und der Wert seiner Optionen vervielfacht sich auf 20'000 Franken. Leider verpasst er den richtigen Moment, um seinen Gewinn zu realisieren, die Kurse entwickeln sich gegen ihn, und die Optionen verfallen wertlos. Wie viel Geld hat Kevin verloren? Nur 5000 Franken, würden er selbst und viele andere Anleger sagen. Es wurde ein mentales Spekulationskonto mit 5000 Franken eröffnet, und nur das ist nun dahin. Doch rein wirtschaftlich ist der Verlust derselbe, wie wenn er 20'000 Franken investiert und alles verloren hätte.
Händler kennen den Effekt
Verkäufer von Autos, Innenausstattungen oder anderen teuren Sachen wissen die Effekte des Mental Accounting zu nutzen. Kaum jemand ist bereit, für eine schöne Beleuchtung seines Wohnzimmers 5000 Franken auszugeben. Doch wird gerade ein neues Haus gebaut, und die Rechnung beläuft sich bereits auf Hunderttausende von Franken, so nehmen es die meisten Leute nicht mehr so genau. Was sind da schon 5000 Franken mehr oder weniger? Je nach mentalem Konto, nämlich Hauskauf oder nur Wohnzimmergestaltung, werden dieselben 5000 Franken für Beleuchtung unterschiedlich eingestuft. Davon lebt auch der freundliche Verkäufer, der Ihnen zum neuen Anzug für 1000 Franken noch schnell eine schöne, aber eigentlich überteuerte Krawatte für 99 Franken schmackhaft macht.
Bei der Geldanlage äussert sich die geistige Buchführung am häufigsten, indem Anleger jede Position in ihrem Depot als separates Konto betrachten. So spielt dann auch der Einstandspreis jeder Position und ob man damit im Gewinn oder Verlust liegt, eine viel zu grosse Rolle. Die Neigung vieler Anleger, auch völlig aussichtslose Verlustpositionen viel zu lange zu halten, erklärt sich daraus. Durch die Realisation des Verlusts würde ja der Fehler offensichtlich. Er könnte nicht mehr in einem mentalen Hinterstübchen versteckt werden.
V erluste überwiegen den Gewinn
Vernünftiger wäre jedoch eine Gesamtbetrachtung des Portfolios. Gewinner gleichen Verlierer oft aus, nicht selten machen einzelne Supergewinner auch gleich mehrere Verlustpositionen wett. Für Entscheide sollten deshalb nur die zukünftigen Aussichten eines Wertpapiers zum jeweils aktuellen Zeitpunkt eine Rolle spielen – völlig unabhängig vom Einstiegskurs. Ein Trick zur einfacheren Verlustrealisation ergab sich aus der Forschung eines Brokerhauses: Betrachten Sie den Verkauf einer Verliereraktie und den Kauf eines neuen Titels nicht als zwei separate Transaktionen mit entsprechenden mentalen Konten, sondern einfach als eine einzige Umschichtung in eine interessantere Anlagemöglichkeit.
Die Gesamtbetrachtung hilft auch, um mit den oft nervenaufreibenden Kursschwankungen fertigzuwerden, besonders bei Aktien. Eine Erkenntnis der Behavioral Finance ist nämlich, dass sich Investoren über Verluste viel stärker aufregen, als dass sie sich über entsprechende Gewinne freuen können. Wer den Kursverlauf jeder Einzelposition ständig verfolgt, fühlt sich den Finanzmärkten viel stärker ausgeliefert und gestresster als ein Anleger, der die Gesamtentwicklung seines Depots über längere Zeitabstände betrachtet.
Scheu vor Aktien verlieren
Wer einen entsprechend langfristigen Anlagehorizont mitbringt, fährt auf Dauer mit Aktienanlagen nachweislich am besten. Doch Mental Accounting spielt auch hier vielen Anlegern einen Streich. Bei etwas so bedeutendem wie der Altersvorsorge neigen viele Anleger zu übertriebener Vorsicht, trotz eines Anlagehorizonts von 20 Jahren und mehr. Wenn man dann noch bedenkt, dass die meisten Schweizer in der zweiten und dritten Säule bereits über einen sehr grossen Anteil festverzinslicher Anlagen verfügen, macht die Scheu vor Aktien umso weniger Sinn. Um die Scheu etwas zu verlieren, kann die vielleicht enttäuschende Entwicklung des Aktiendepots in den vergangenen Jahren mit derjenigen des Pensionskassen-Vermögens zu einer wesentlich weniger volatilen Gesamtbetrachtung zusammengelegt werden.
Auf der anderen Seite kann ein unerwarteter Gewinn, etwa ein Lottotreffer oder ein überraschender Bonus, zu leichtsinnigem Anlageverhalten führen. Nach dem Motto «Wie gewonnen, so zerronnen» wird mit solchem Geld oft gezockt. Auch überraschende und schnelle Erfolge an der Börse führen nicht selten dazu, dass Anleger mit dem leicht gewonnenen Spielgeld unverhältnismässige Risiken eingehen. Man sollte sich jedoch vor Augen führen, dass es jederzeit auch zu schnellen und unerwarteten Verlusten kommen kann, nicht nur an der Börse, sondern auch durch Krankheit oder Jobverlust. Eine vernünftige Gesamtbetrachtung der Vermögenssituation ist deshalb auch in diesem Fall der mentalen Einzelkontoführung überlegen. Buchhaltung sollte eben auf dem Papier, nicht im Gehirn stattfinden. (Tages-Anzeiger)
Erstellt: 18.03.2012, 17:51 Uhr