Für Karl Broich, den Präsidenten des Deutschen Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm), ist es einer der grössten Pharmaskandale in der Geschichte des Landes. «Die betroffenen Hersteller müssen jetzt ihre Hausaufgaben machen», sagte er im Interview mit der «Süddeutschen Zeitung». Anfang Dezember hatte seine Behörde den Verkauf von rund 80 Medikamenten verboten und 16 Pharmahersteller aufgefordert, neue Zulassungsstudien einzureichen. Zur gleichen drastischen Massnahme griff auch die französische Arzneimittelagentur ANSM und suspendierte die Zulassung von 25 Medikamenten. Die belgischen Behörden zogen vier Produkte vom Markt zurück, die luxemburgischen zwei. Betroffen sind Arzneimittel wie Blutgerinnungshemmer, Diabetesmittel und Migränemedikamente. Es handelt sich dabei in allen Fällen um Generika.
In der Schweiz ging man im Dezember davon aus, dass «weniger als zehn Generika» betroffen sind. Das Heilmittelinstitut Swissmedic betonte in einer Mitteilung zudem, dass die festgestellten Datenmanipulationen sich nicht auf die Sicherheit der Medikamente auswirke. Und dass man die Zulassung betroffener Arzneimittel vorerst nicht suspendieren wolle – im Gegensatz zu den Behörden in Deutschland und anderen europäischen Ländern.
Späte Entwarnung
Nach dieser Reaktion wurde dem Heilmittelinstitut vorgeworfen, es handle zögerlich. Doch nun teilt Swissmedic auf Anfrage mit, dass in der Schweiz gar keine Generika erhältlich seien, die aufgrund von manipulierten Studien zugelassen seien. Wohl wegen des Informationsdefizits im Vergleich zu den Zulassungsbehörden der EU-Länder war man im Dezember offenbar noch nicht in der Lage, eine sichere Aussage zu machen.
Nach dem Durchkämmen einer grossen Zahl von Zulassungen fanden die Zuständigen einzig zwei betroffene Generika. Die Arzneien sind jedoch nur für den Vertrieb im Ausland zugelassen und in der Schweiz nicht erhältlich. Swissmedic will «nötigenfalls die Sistierung oder den Entzug der Zulassung anordnen», sagt Sprecher Peter Balzli.
Auslöser für das drastische Einschreiten einiger europäischer Zulassungsbehörden sind Missstände bei der indischen Firma GVK Biosciences in Hyderabad. Der Dienstleister mit rund 2400 Mitarbeitern führt für Pharmaunternehmen klinische Studien durch, die Voraussetzung für die Zulassung von Medikamenten sind. Im Mai 2014 stellte die französische ANSM bei einer Inspektion vor Ort fest, dass bei sämtlichen neun geprüften Studien Daten verfälscht waren. Elektrokardiogramme (EKG) waren bei einigen Versuchsteilnehmern offenbar nicht gemessen worden, stattdessen verwendete man die Messungen von anderen Teilnehmern mehrfach. GVK Bio- science widerspricht in einer Mitteilung nicht, dass EKGs ausgewechselt worden waren. Das Unternehmen findet es jedoch übertrieben, von Manipulation zu sprechen. Die EKGs hätten keine direkte Relevanz für die Qualität der getesteten Medikamente. Laut der deutschen Bfarm sind die Mängel allerdings so gravierend und vor allem systematisch, dass die Studien der Firma nicht mehr für eine Zulassung akzeptiert werden könnten, «im Sinne des vorbeugenden Patientenschutzes», wie es heisst.
Bei den beanstandeten Studien handelt es sich um sogenannte Bioäquivalenztests, wie sie für die Zulassung von Generika notwendig sind. Die Nachahmerpräparate enthalten bekannte Wirkstoffe von Medikamenten, deren Patentschutz abgelaufen ist. Mit den Bioäquivalenzstudien müssen die Hersteller nachweisen, dass die Generika ähnlich gut wirken wie die Originale.
Die Schweiz ist bislang glimpflich davongekommen. Doch der Fall GVK Biosciences ist noch nicht abgeschlossen. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat rund 1250 Zulassungen im Zusammenhang mit GVK Biosciences überprüft und veröffentlicht voraussichtlich Ende Januar ihre Empfehlungen. Dann wird sich auch zeigen, inwieweit neben Generika auch Originalpräparate von den Datenmanipulationen betroffen sind. Auch Swissmedic überprüft zurzeit Originalpräparate.
Die Schweiz steht abseits
Der Fall GVK Biosciences veranschaulicht die Grenzen von Swissmedic als eigenständige Behörde innerhalb von Europa. «Wir sind auf den Goodwill der EU-Behörden angewiesen», sagt Sprecher Balzli. Man sei zwar schon seit langem bestrebt, die Zusammenarbeit mit der EMA und den nationalen Behörden in der EU zu verbessern. «Eine Vereinbarung zum Informationsaustausch zwischen EMA und Swissmedic konnte bislang aber aus politischen Gründen nicht abgeschlossen werden», so Balzli.
Tatsächlich musste sich Swissmedic im Fall GVK Biosciences auf im Internet öffentlich zugängliche Informationen stützen. Die Schweizer Behörde wurde laut EMA weder vorzeitig noch mit mehr als einer allgemeinen Zusammenfassung informiert. Die Arzneimittelbehörden der EU-Länder wussten hingegen durch die Mitarbeit in EMA-Ausschüssen bereits Monate früher von den Datenmanipulationen. «Man kann nicht erwarten, dass die Einbindung von Nicht-EU-Mitgliedern gleich ist wie die von Mitgliedern», sagt ein leitender Mitarbeiter einer europäischen Zulassungsstelle, der nicht zitiert werden will.
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 19.01.2015, 21:47 Uhr)