Als am 11.März 2011 in Japan erst die Erde bebte, dann der Tsunami kam und schließlich die Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima explodierten, waren am Ende 15.844 Menschen tot. Sie alle waren Opfer des Bebens und, vor allem, des Tsunamis – an der freigesetzten Radioaktivität starb hingegen niemand, es erkrankte auch niemand, und allen Prognosen zu Folge wird es auch niemand tun. Denn das Krisenmanagement der japanischen Regierung, das ansonsten völlig versagt hatte, bewährte sich beim Strahlenschutz, man maß die Strahlenbelastung der Betroffenen, man gab Jodtabletten aus – zum Schutz der Schilddrüsen –, man evakuierte: „Vom direkten Einfluss auf die Gesundheit her war die Strahlung vernachlässigbar“, erklärte etwa Richard Garfield (Columbia University).
Aber der indirekte wird immer drückender: 210.000 Menschen mussten vor der Strahlung flüchten, oft in wochenlangen Odysseen von Notunterkunft zu Notunterkunft, irgendwann kamen sie in Siedlungen unter, die die Regierung rasch hatte hochziehen lassen, in langen Reihen die Straßen entlang. Und dort bekommen sie die Spätfolgen zu spüren: „Ich bin neidisch auf die Städte, die vom Tsunami betroffen waren“, bedauert eine Strahlenevakuierte, „sie konnten mit dem Neuaufbau beginnen.“
„Sie verfallen in Radiophobie“
„Den Tsunami-Leuten geht es anscheinend besser, sie denken positiver über die Zukunft“, bestätigt Hirooki Yabe, Psychiater an der Medizinuniversität von Fukushima, der mit beiden Gruppen Erfahrung hat: „Die Strahlenevakuierten werden von Tag zu Tag depressiver. Sie verfallen in Radiophobie“ (Nature, 493, S.290). Apathie macht sich breit, Furcht geht um – vor allem jene, dass man selbst oder die Kinder der Strahlung wegen eines Tages doch an Krebs erkranken könnten –, Depressionen häufen sich, Selbstmorde wohl auch. Aber nicht einmal dazu haben das Journal Nature und die von ihm befragten Experten zuverlässige Zahlen: Ab und zu macht ein Fall Schlagzeilen – etwa der eines Mannes, der den Kraftwerksbetreiber klagte, weil seine Frau sich zu Tode gehungert hatte –, aber die offizielle Statistik beruhigt.
Ihr glaubt nur niemand, das Misstrauen gegenüber der Regierung sitzt tief. Das bekommt auch die „Fukushima Health Management Survey“ (FHMS) zu spüren, die sich um die Gesundheitsfolgen der Katastrophe kümmert, auch um die psychischen: Die Psychologen des Teams verschickten vor einem Jahr Fragebogen an alle 210.000 Strahlenflüchtlinge. Die schriftlichen Antworten waren doppelt beunruhigend: 15 Prozent beklagten extremen Stress, das waren so viele wie in New York Jahr nach 9/11.
Aber 120.000 antworteten gar nicht. Und die, die geantwortet und Stress beklagt hatten und daraufhin telefonisch kontaktiert wurden, verweigerten längere Gespräche. „Die Menschen der Region sind sehr verschlossen, sie reden nicht über persönliche Dinge, vor allem nicht mit Fremden“, berichtet Yabe und regt Tageskliniken an. Aber psychische Leiden sind in Japan ohnehin eher tabu – und das Geld ist so knapp, dass die Arbeit der FHMS bedroht ist –, ganze hundert der 210.000 Geflüchteten hatten bisher ausführliche Gespräche mit Psychologen. Eine von ihnen, Yuriko Suzuki, wäre deshalb schon froh, wenn die Regierung die Notsiedlungen nicht als Straßendörfer angelegt hätten, sondern kreisförmig, mit Spielplätzen und Treffpunkten in der Mitte. „Sie haben es nicht getan.“
So verschlimmert sich die Situation: „Wenn Menschen nicht in ihr altes Leben zurückkönnen, gehen sie zugrunde“, weiß Ronald Kessler (Harvard), der das Gleiche bei den Opfern des Wirbelsturms Katrina in den USA 2005 beobachtet hat: „Das Problem wird auch hier überhandnehmen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2013)