Das Alter zwischen 45 und 55 gilt als kritisch, als potenzielle Krisenzeit. Eine neue Studie zeigt: Viele sehen auch die Chance, in die zweite Lebenshälfte durchzustarten.
Es gab einmal einen Mann, der von sich sagte, seine Zahl sei 300: Sein Auto hatte 300 PS. Die Wohnung hatte 300 Quadratmeter. Und 300.000 Euro hat er an seine Frau nach der Scheidung gezahlt. Das klingt wie ein Klischee, es ist aber eine Geschichte aus einem Managerleben, die Ingo Markgraf über einen Kunden erzählt.
Ingo Markgraf, 46 Jahre alt, ist Professor für Wirtschaftspsychologie und Markenkommunikation, daneben arbeitet er als Coach für Unternehmen in Veränderungsprozessen. Oft berät er Führungskräfte: Smarte Typen, sagt er, die im Coaching plötzlich Nerven zeigen. Typen wie der 300-PS-Mann, der zugab, dass er die Erziehung seiner Kinder vermasselt hatte. Und sich nun täglich fragte, warum er den 60-Stunden-Job, der bisher sein Lebensinhalt war, eigentlich machte.
Dass Gefühle in der Mitte des Lebens Amok laufen, ist eine relativ häufige Erscheinung. Für dieses Phänomen prägte die amerikanische Autorin Gail Sheehy 1974 den Begriff Midlife-Crisis (auf Deutsch: Mittlebenskrise). In der Psychiatrie wird der Begriff nicht verwendet: Zu unscharf, zu unwissenschaftlich ist die Symptomatik. Auch Ingo Markgraf spricht ungern von der Midlife-Crisis. Aber ihm fiel in seinen Coachings auf, dass die Tatsache, in der statistischen Lebensmitte zu stehen, bei vielen seiner Klienten ein Thema ist und die Ansichten darüber stark variieren.
700 Teilnehmer aus ganz Deutschland
Wie blicken Menschen mit Mitte 40 auf ihre zweite Lebenshälfte? Diese Frage weckte den Forschergeist des Betriebswirts Markgraf. Er erstellte einen Fragebogen, den er von 700 Freiwilligen aus ganz Deutschland ausfüllen ließ. Mit 80 Teilnehmern führte er zusätzlich Interviews. Ziel seiner nicht-repräsentativen Umfrage war es, „eine Vorstellung davon zu gewinnen, mit welchen Erwartungen, Ängsten und Wünschen eine Generation in die zweite Hälfte startet“.
In einem Sprechzimmer auf dem Campus Köln der privaten Hochschule Macromedia, an der er unterrichtet, schiebt er ein Blatt über den Tisch: Es zeigt eine Grafik, die die prognostizierte Altersverteilung für Deutschland im Jahr 2030 verdeutlicht. Früher nannte man so etwas demografische Pyramide; heute spricht man eher vom Tannenbaum: unten am Stamm schmal, weil immer weniger Kinder geboren werden; in der Mitte breit, das ist die Mehrheit der Deutschen. Um diese Menschen geht es Markgraf. „Die Generation der heute 40-Jährigen wird die Lebens- und Arbeitswelt der nächsten Jahrzehnte maßgeblich prägen“, sagt er. Auch deshalb sei es so wichtig zu wissen, wie diese Gruppe über ihre zweite Lebenshälfte denkt.
Dass die Lebensmitte nicht nur ein gefühltes, sondern wohl ein tatsächliches Stimmungstal ist, hat die Glücksforschung schon vor Jahren bestätigt. Die britischen Ökonomen David Blanchflower und Andrew Oswald werteten 2008 in einer Studie Umfragen mit insgesamt 500.000 Probanden aus 72 Ländern aus, die über Jahrzehnte hinweg zu ihrem seelischen Befinden befragt worden waren. Das Ergebnis lautetet: Über die Lebenszeit betrachtet, verläuft unser Befinden in einer U-Kurve. In der Jugend fühlen sich offenbar die meisten Menschen gut, dann fällt das Wohlbefinden plötzlich bis zur Mitte des Lebens ab. Die Talsohle erreichte die Zufriedenheit etwa zwischen dem 42. und 47. Lebensjahr. Erst danach steigt die Glückskurve wieder an. Und das ist, so Blanchflower und Oswald, in allen Kulturen gleich.
Erhöhte Spannung bei den 40- bis 50-Jährigen
Auch Markgraf beobachtete in seiner Umfrage eine erhöhte Spannung bei der Altersgruppe der 40- bis 50-Jährigen. Jedoch offenbart seine Umfrage auch große Unterschiede. Die lassen Rückschlüsse darauf zu, wie ein glücklicher Start in die zweite Hälfte gelingt.
In vielen Gesprächen habe ihn die Ziellosigkeit der Probanden gewundert, sagt Markgraf. So gab etwa ein Drittel der befragten Männer an, keine Lust mehr auf ihren Job zu haben und gern etwas ganz anderes tun zu wollen. „Das reichte von offener Aggressivität bis zur stillen Resignation.“ Markgraf erstaunt das, weil man die Situation mit Mitte 40 ja auch ganz anders deuten könne. „Diese Menschen befinden sich wahrscheinlich ungefähr in der Mitte ihres Lebens. Das bedeutet, sie haben die gleiche Zeit noch einmal zur Verfügung – jedoch ohne die ersten zwanzig Jahre des Heranwachsens und mit all den bisherigen Erfahrungen“, sagt Markgraf. So gesehen, seien das doch großartige Voraussetzungen.
Auch seine Gespräche führte der Forscher oft mitten im Leben. Ein Manager habe ihn auf einer Gartenparty angesprochen. „Eine Stunde später wusste ich, dass der Mann seinen Job hasst, es mit seiner Frau nicht so gut läuft, seine letzte Freundin ihn abserviert hat und es Freunde auch nicht mehr gibt“, erinnert sich Markgraf.
Solcherlei Feldforschung mag man ungewöhnlich nennen. Allerdings fördert sie Wahrheiten zutage, die mit Fragebögen nur schwer erfasst werden könnten. „Tatsächlich gaben viele im Fragebogen sozial erwünschte Antworten“, sagt Markgraf. Hatten die Probanden angekreuzt, dass sie mit einem Gespräch einverstanden seien, griff der Forscher zum Telefon und rief sie an. „Dort habe ich dann oft ganz andere Dinge erfahren.“
Die Lebensgeschichten, die Markgraf zu hören bekam, waren sehr unterschiedlich. „Es gab finanziell sehr erfolgreiche Menschen, die plötzlich ihr Leben umkrempeln wollten; und andere, die völlig im Reinen mit sich waren und alles genau so beibehalten möchten.“ Wieder andere äußerten, sie hätten keine Ahnung, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollten. Oft hätten sich Gespräche irgendwann auf eine spirituelle Ebene verlagert, sagt Markgraf. „Auch wenn viele es nicht so formulieren: Sie beschäftigten sich plötzlich verstärkt mit dem Sinn ihres Lebens.“
Sie sprühen vor Energie
Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, vor Energie zu sprühen und noch einmal beruflich oder privat durchstarten zu wollen. Anders als im Sturm und Drang der Jugend aber waren diese neuen Kapitel oft überschrieben mit Schlagworten wie „Mehr Zeit für mich“. Ein entspannt-motiviertes Lebensgefühl.
Verblüffender waren die Unterschiede, auf die Markgraf in seiner Analyse stieß. Einer betrifft das Geschlecht: Rund drei Viertel der Männer gehen optimistisch in die zweite Lebenshälfte – im Gegensatz dazu aber nur etwa 55 Prozent der Frauen. „Während heute 40- bis 50-jährige Männer ihre Zuversicht vor allem aus bisherigen Erfolgen schöpfen, machen sich Frauen dieser Generation offenbar mehr Sorgen“, glaubt der Forscher. Ein Grund: Frauen denken in dieser Phase offenbar vermehrt auch an berufliche Fragen – zum Beispiel daran, wie nach der Kindererziehung der Wiedereinstieg in den Job gelingen kann. Auch in der Partnerschaft sind Frauen der Erhebung zufolge unzufriedener. „Interessant ist, dass Fremdgehen und Trennungen in dieser Altersgruppe offenbar relativ normale Phänomene sind“, sagt Markgraf.
Des Weiteren brachte die Umfrage zutage, dass das Gefühl der Verantwortung für das eigene Leben ein wichtiges Kriterium ist. Denn: Je stärker jemand glaubt, selbstbestimmt und frei über sein Leben und Arbeiten entscheiden zu können, desto zuversichtlicher blickt er in die Zukunft. Exemplarisch dafür seien die Aussagen eines Top-Managers und eines Friseurs gewesen, sagt Markgraf: Während der Manager sich abhängig fühlte und von Verlustängsten gequält wurde, freute sich der angestellte Friseur auf „viele neue Abenteuer“. Psychologen nennen das Phänomen Selbstwirksamkeit: Studien zeigen, dass Menschen, die an ihre eigene Kraft glauben, ausdauernder bei der Bewältigung von Aufgaben sind. Außerdem haben sie ein geringeres Risiko für Angststörungen.
Klare Ziele und Eigenverantwortung
Gibt es Merkmale, die auf alle zuversichtlichen Mittvierziger zutreffen? Markgraf nennt drei Dinge: „Erstens: Ich brauche ein Ziel. Zweitens: Ich muss mich wichtig nehmen und mir öfter mal etwas gönnen. Drittens: Ich muss mich als verantwortlich für mein Leben empfinden.“ Für Unternehmen könnte Markgrafs Studie Anhaltspunkte bieten, wie sie die heutigen Mittvierziger in Zukunft halten könnten: durch klare Ziele und Eigenverantwortung.
Damit treffe sie sich mit der „Generation Y“, der Generation der heute 20- bis 30-Jährigen, sagt der Professor. Auch die sei deutlich mehr an Lebensqualität und Freizeit als an hohen Gehältern interessiert. Vielleicht ähnelt das Lebensgefühl von Menschen in der Lebensmitte somit dem von jungen Leuten ja mehr als man denkt.