Lisa leidet unter dem Tourette-Syndrom, Martina unter Panikattacken, Nadine hat mit Misophonie zu kämpfen und Yanick sprach über seine Depressionen. Sie sind die vier jungen 20-Minuten-Leser, die den Mut hatten, im Rahmen unserer Serie «Leser stellen sich vor» über ihre psychischen Erkrankungen zu sprechen. In einem letzten Interview äussert sich Professor Uwe Herwig, Chefarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Zürich, zur Offenheit der vier und zu psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen.
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Die 20-Minuten-Leser schreiben von ihren Depressionen
Leser stellen sich vor
Diese Serie dreht sich um das Wichtigste bei 20 Minuten: die Leserinnen und Leser. Jeden Mittwoch wird ein Mitglied der Community vorgestellt. Zu einem monatlich wechselnden Thema erzählen sie aus ihrem Leben. Im September und Oktober erzählen Leser mit psychischen Erkrankungen aus ihrem Leben. Alle Interviews finden Sie hier
Kinder und Jugendliche, die unter depressiven Verstimmungen oder Depressionen leiden, können sich jeder Zeit telefonisch, per SMS oder Chat an Pro Juventute wenden. Ruft dazu einfach die Nummer 147 an, schreibt ein SMS an die Nummer 147 oder geht online auf 147.ch. Die Mitarbeiter helfen auch dann, wenn ihr bemerkt, dass ein Freund oder Schulkollege an Depressionen oder anderen Problemen leidet.
Herr Herwig, in unserer Interviewreihe «Leser stellen sich vor» sprachen wir mit Lesern, die unter psychischen Erkrankungen litten. Was halten Sie von solchen Interviews?
Diese Leser-Interviews sind sehr wichtig und ich habe grosse Anerkennung dafür, dass Sie dieses Forum bieten. Sie helfen, das Stigma von psychischen Erkrankungen zu nehmen. Sie stellen die betroffenen Menschen ins Zentrum und zeigen, dass diese Krankheiten vor allem eines sind: menschlich. Sie können uns alle treffen. Dadurch, dass die vier Leserinnen und Leser den Mut hatten, öffentlich über ihre Erkrankungen zu reden, machen sie das Menschliche deutlich.
Auf unseren Aufruf haben sich vor allem Frauen gemeldet, aber kaum Männer. Woran liegt das?
Das kann ich letztlich natürlich nicht sagen. Aber zum einen ist es sicher so, dass Frauen häufiger von Depressionen, Angststörungen oder manchen anderen psychischen Krankheiten betroffen sind. Ausserdem ist es leider immer noch so, dass Männer nicht so offen über ihre Gefühle und Probleme sprechen wie Frauen – und für ein solches Interview braucht es viel Offenheit.
Im Anschluss an die Interviews erreichten uns zahlreiche Zuschriften, in denen Lisa, Martina, Nadine und Yanick Mut zugesprochen wurde. Woher kommt die Anteilnahme?
Erst einmal freut es mich sehr, dass Ihre Leser so rege Anteil nehmen! Das zeigt eben, dass Öffnung auf grossen Zuspruch stossen kann. Psychische Erkrankungen sind ein Aspekt menschlichen Lebens und die vier geben ihnen ein Gesicht. Ausserdem tut Helfen gut.
Die vier haben schon sehr früh versucht, Hilfe zu bekommen, sind aber bei ihren Hausärzten aus ihrer Sicht nicht richtig behandelt worden. Können Sie das erklären?
Grundsätzlich kennen sich Hausärzte gut mit psychischen Erkrankungen und deren Behandlungsansätzen aus. Ich kenne die betreffenden Hausärzte natürlich nicht, aber bei selteneren, komplexen oder schwereren Erkrankungen oder wenn nach kürzerer Zeit kein Therapieerfolg verzeichnet werden kann, ist empfehlenswert, dass Hausärzte einen Psychiater zu Rate ziehen. Man kann auch ganz gezielt eine Überweisung zu einem Facharzt für Psychiatrie oder Psychotherapie wünschen. Diese können auch eine körperliche Diagnostik durchführen oder Medikamente verschreiben, falls es die braucht. Wichtig ist auch die begleitende Psychotherapie, die kann alternativ von einem Psychotherapeuten durchgeführt werden.
In drei von vier Fällen wurden die Betroffenen erst wegen anderer psychischer Krankheiten behandelt und mussten im Internet selber recherchieren. Wie kann das sein?
Auch hier kann ich natürlich nicht zu den konkreten Fällen Stellung nehmen. Grundsätzlich kann die Diagnose psychischer Erkrankungen schwierig sein und die Beschreibungen der Symptome können wechseln. Viele Ihrer Interviewpartner waren bei den ersten Anzeichen ihrer Erkrankungen noch sehr jung, und gerade dann kann die Diagnostik eine Herausforderung sein. Wenn Sie den Eindruck haben, dass Diagnose und Behandlung nicht passen, ist eine Zweitmeinung empfehlenswert und bei ausbleibendem Therapieerfolg die Konsultation eines Spezialisten. Die selbstständige Internetrecherche kann helfen, über die Erkrankung mehr Wissen zu erlangen. Die Informationen sind aber immer mit Vorsicht zu geniessen. Es ist gut, das Gelesene mit dem Arzt zu besprechen.
Was kann man machen, um dem Arzt bei der Diagnostik zu helfen?
Es ist wichtig, dass man offen und deutlich ist. Haben Sie keine Hemmungen, Ihre Probleme anzusprechen und diese klar zu formulieren, denn nur so kann man eine Diagnose stellen. Wenden Sie sich im Zweifelsfall an einen Spezialisten, sprich an einen Psychiater. Und es ist durchaus empfehlenswert, die eigenen Symptome zu googlen und die Ergebnisse mit seinem Arzt zu besprechen.
Bei den meisten unserer Interviewpartner brachen die Krankheiten während der Pubertät aus. Wie merkt man bei Teenagern, dass die Probleme über die üblichen altersbedingten «Macken» hinausführen?
Wenn ausgeprägte emotionale Verhaltensänderungen über längere Zeit anhalten und mit spürbarem Leidensdruck einhergehen. Die Abgrenzung zu nachvollziehbaren Tiefs bei einem Teenager, wie zum Beispiel Liebeskummer, ist manchmal nicht einfach, aber es gibt es oft einen Auslöser und der ist nachvollziehbar. Ist ein Jugendlicher aber ständig niedergeschlagen, wird er aggressiv, sind seine Äusserungen nicht mehr recht nachvollziehbar oder zeigt er einen deutlichen und anhaltenden Leistungsabfall, sollte man sich überlegen, zu reagieren.
Wie können Eltern reagieren?
Indem sie versuchen, auf ihr Kind zuzugehen und offen zu reden. Das ist sicher der erste wichtige Schritt. Dringt man nicht zum Jugendlichen durch, hilft auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie beratend weiter. Dort gibt es entsprechende Experten und diese beraten auch Angehörige im richtigen Umgang. Es ist in vielen Fällen ratsam, professionelle Hilfe hinzuzuziehen. Es ist ganz besonders wichtig, dass die Eltern dranbleiben und ihr Kind spürbar unterstützen.
Mobbing war ein grosses Thema unter den Teilnehmern. Was kann das bei psychisch Kranken auslösen?
Das ist schlimm. Mobbing ist ein Riesenproblem, denn die Betroffenen leiden schon unter ihren Erkrankungen und werden zusätzlich noch gehänselt. Dies kann natürlich die Erkrankung verschlimmern. Wenn man gemobbt wird, ist es wichtig, sich an eine Vertrauensperson zu wenden: Eltern, Lehrer oder Schulpsychologen, einen Experten oder auch den Hausarzt. Und wenn sich die Situation nach dem ersten Versuch nicht bessert, dann machen Sie so lange auf sich aufmerksam, bis eine Lösung gefunden wird. Sie sollten auf keinen Fall akzeptieren und ertragen, dass Sie gemobbt werden. Es wird jemanden geben, der Ihnen hilft.
Können Sie Stellen empfehlen, an die sich vor allem junge Menschen wenden können?
Die Kinder- und Jugendpsychiatrien in den einzelnen Kantonen sind sehr gute Anlaufstellen. Diese haben ein Netz von Experten zu den verschiedensten Erkrankungen. Auch Pro Juventute ist ein möglicher Ansprechpartner.
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