Es war einmal…die Psyche

Wenn der neue Pixar-Film „Alles steht Kopf“ etwas nicht ist, dann ein stromlinienförmiges Unterhaltungsprodukt. Als Zielgruppe kämen schließlich nur elfjährige Mädchen mit abgeschlossenem Psychologie- und Neurobiologiestudium sowie einem gewissen Hang zur Albernheit infrage. Trotzdem funktioniert der Film auch abseits der Zielgruppe bestens und zeigt für einen Animationsfilm gewagt viel Tiefgang.

Filmautor und Regisseur Pete Docter hätte es sich einfach machen können: Die Grundidee einer Quasi-Boulevardkomödie, bei der das Innenleben einer Elfjährigen über ihre fünf Emotionen Freude, Kummer, Wut, Angst und Ekel geschildert wird, wäre für einen ebenso putzigen wie fröhlichen Kassenknüller gut genug gewesen. Docter, im Animationsstudio Pixar schon immer für die eher melancholische Ecke zuständig (Drehbuch bei „WALL·E“, Regie und Drehbuch für „Oben“), hat es sich aber nicht so einfach gemacht, sondern im Gegenteil so schwer wie möglich.

In der Nacht kommt die Erinnerungsmüllbrigade

Der Film will nicht weniger als das Innenleben eines Menschen, im konkreten Fall der elfjährigen Riley, bis ins neurologische Detail korrekt darstellen: Bewusstes, Unbewusstes, Verdrängtes, Abstraktionsvermögen und Fantasie werden allesamt zu „realen“ Schauplätzen, die vom Hauptquartier - einer stilisierten Version des Hypothalamus im Gehirn - kontrolliert werden. Man denke sich den alten Otto-Waalkes-Sketch „Der Menschliche Körper“ in 94 Minuten Länge als „Die Menschliche Psyche“ und um einiges komplexer.

Filmszene aus Alles steht Kopf

Disney Pixar

Wut, Ekel, Freude, Angst und Kummer im „Hauptquartier“

Gemäß dem aktuellen Stand der Forschung wird auch erklärt, wie die Psyche ins Wanken gerät, warum Emotionen Erinnerungen beeinflussen, und was zum Beispiel während des Schlafs geschieht: Da werden Erinnerungen (im Film von urkomischen Verwaltungsbeamten) entsorgt, gelagert oder wandern ins Langzeitgedächtnis, wenn eine der Emotionen das will. Zugleich wird im Traumfilmstudio Schwerarbeit geleistet. Jeder Gedankengang (englisch: train of thought) fährt als Zug gemäß lehrbuchmäßigem Fahrplan.

Anlaufschwierigkeiten lösen sich in Wut auf

Die Ansprüche des Films an sich selbst haben ihren Preis. Um die Funktionsweise des menschlichen Innenlebens a la Pixar zu erklären, braucht der Film am Anfang ein paar dröge Minuten, in denen er dem Zuschauer die Spielregeln klarmacht. Dafür geht es dann schnell rund - spätestens mit dem Auftritt des cholerischen „Wut“ und der lethargischen „Kummer“ als den gelungensten Charakteren unter den fünf Emotionen. Zu humoristischer Höchstform läuft der Film aber vor allem bei den Nebenfiguren auf.

Vielleicht ist es ja auch ein ganz gewiefter neuer Trick, um BluRay/DVD-Verkäufe anzukurbeln, aber die vielen Wendungen, Feinheiten und Insider-Scherzchen des Films kann man wohl erst nach oftmaligem Ansehen erfassen. Die Handlung in der Außenwelt ist nur der Aufhänger: Rileys Familie muss aus der Geborgenheit des ländlichen US-Bundesstaates Minnesota ins große San Francisco übersiedeln, mit allen erwartbaren Folgen für das Seelenleben. Man weiß ziemlich genau, was passieren wird. Spannend wird der Film, weil man nicht weiß, wie es passieren wird.

Mehr wert als „alle Erziehungsratgeber zusammen“?

Es ist mit Sicherheit der anspruchsvollste Film, den Disney/Pixar je gewagt haben. Dass dem Studio dabei ziemlich mulmig zumute war, zeigt allein schon der Rückfall auf eine inzwischen seltene Praxis: In den USA und Großbritannien schickte man den Streifen schon als Sommer-Blockbuster ins Rennen, um für den Rest der Welt beim Marketing allenfalls noch nachjustieren zu können. Die Sorge war jedoch unbegründet: Die Kritiker waren begeistert, und an den Kinokassen entwickelte sich der Streifen zum Longseller.

Filmszene aus Alles steht Kopf

Disney Pixar

Erinnerungen sind im Film als bunte Kugeln dargestellt

Neben begeisterten Kritiken wurde der Film im englischsprachigen Feuilleton vor allem auch in der Ecke Psychologie/Lebenshilfe abgehandelt. Manche gingen sogar so weit, von einem „Pflichtfilm“ für Eltern zu sprechen, den es „auf Rezept“ geben sollte und der mehr wert sei „als alle bisher je geschriebenen Erziehungsratgeber zusammen“. Tatsache ist, dass (kleinere) Kinder am allerwenigsten von dem Film haben werden, wie Psychologin Claudia Hartl auch gegenüber ORF.at bestätigt.

Lob von der Fachfrau

Erst ab etwa elf Jahren sieht die auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Psychologin den Film als gewinnbringend an. Für jüngere sei er wohl zu komplex und damit uninteressant. Für einen Animationsfilm sei die wissenschaftliche Akkuratesse zudem tatsächlich beachtlich, „Lehrfilm“ sei es allerdings keiner. Hartl zieht einen Vergleich zur Zeichentrick-TV-Serie „Es war einmal...das Leben“: Wurde damals der menschliche Körper erklärt, erklärt sich dem Zuseher nun die Psyche. Und Eltern können nach ihrer Einschätzung tatsächlich etwas lernen.

Für Eltern ist der Film aus Hartls Sicht eine Einladung zur „Perspektivenübernahme“ - jenem psychologischen Prozess, Dinge mit den Augen des Gegenübers zu sehen, und damit „eine Anleitung zum empathischen Denken, Fühlen, Handeln“. Als positiv streicht sie die kurzen Ausflüge des Films in andere Köpfe hervor, die zeigten, dass die Gefühle jedes Menschen anders und jene von Kindern nicht die von „kleinen Erwachsenen“ seien. Für den Laien zählen diese Szenen zudem einfach zu den lustigsten des Films.

„Nur ‚happy‘ und nie traurig macht unflexibel“

Eltern und Kindern im entsprechenden Alter könne der Film zudem vermitteln, dass alle Gefühle ihre Berechtigung hätten und man sie auch braucht: „Nur ‚happy‘ und nie traurig ist einseitig, starr, macht unflexibel, führt zu Verdrängung“, so Hartl. Und Eltern sollten nach dem Film zumindest nicht mehr versuchen, ihren Kindern Gefühle „ausreden“ zu wollen. Der Film helfe bei der Einsicht, dass man „auf alle seine Gefühle achten“ und diese „zulassen“ dürfe. Weitere Nachhilfe ist nicht ausgeschlossen: Das Filmende schreit geradezu nach einer Fortsetzung.

Eltern und Kinder können aber angesichts des Films auch ein wenig stolz darauf sein, wie sie heutzutage miteinander umgehen. Wie der US-Filmwissenschaftler Nicholas Sammond in seinem Buch „Babes in Toyland“ akribisch nachzeichnet, ist eines bei Disney immer fix: dass Kinder und Eltern so gezeigt werden, wie es gerade dem Mainstream entspricht. Wurden Kinder in den Filmen noch vor einer Generation als schutzbedürftig und unvernünftig gezeichnet, sind sie demnach heute Menschen, mit denen ihre Eltern auf Augenhöhe reden können und sollen.

Lukas Zimmer, ORF.at

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Publiziert am 30.09.2015

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