Erinnerungen sind in größter Gefahr

Biopsychologe

Liegen unsere Erinnerungen in unserem Gehirn wirklich sicher auf einer "Festplatte"? Keineswegs, stellt der Bochumer Psychologie-Professor Güntürkün fest. Erinnerungen werden von allerlei Faktoren beeinflusst und sind alles andere als zuverlässig.

Von Bettina Grönewald

Erinnerungen würden im Nachhinein von später erworbenem Wissen verändert. Davor warnt der Biopsychologie-Professor Onur Güntürkün.

© chris-m/fotolia.com

DÜSSELDORF. "Erinnern ist das wahre Vergessen." Mit diesem Satz irritiert der Bochumer Biopsychologe Professor Onur Güntürkün all jene, die bisher glaubten, auf die Bilder aus dem Gedächtnis sei Verlass.

Und nicht nur das: "Unsere Erinnerungen sind in größter Gefahr, wenn wir uns an sie erinnern", warnt der 57-Jährige. "Dann werden sie sehr fragil und können zerstört oder modifiziert werden."

Viele Experimente belegten dies. Und hat die Erkenntnis einen praktischen Wert? Und ob, meint der Wissenschafter. "Eigentlich müssten Juristen das studieren."

Denen sei der schmale Grat zwischen Erinnern, Vergessen und Manipulation selten bewusst.

"Erinnern, vergessen - Strategien oder Zufälle?" Die nordrhein-westfälische Akademie der Wissenschaften und Künste hatte das anspruchsvolle Thema an kürzlich in Düsseldorf auf der Tagesordnung eines interdisziplinären Forums. Für Güntürkün keine Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm, sondern eine Frage von geradezu dramatischer Relevanz.

Katastrophale Folgen

Wer die Funktionsmechanismen des Gedächtnisses nicht verstehe und nicht wisse, wie "Erinnerungen implantiert" werden, könne schlimmen Irrtümern erliegen, erläuterte er.

Vor allem vor Gericht. "Das kann zwei katastrophale Folgen haben", stellt der mehrfach ausgezeichnete Forscher der Ruhr-Universität Bochum fest.

"Es kann sein, dass ein Unschuldiger in den Knast geht oder dass ein Schuldiger nicht in den Knast geht."

Manchmal hänge es an einem einzigen Wort. Je nachdem, ob gefragt werde, ob ein Auto in ein anderes "gekracht" sei oder ob es "auffuhr", berichteten Zeugen von unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Je nach Intensität des Verbs, das der Fragende benutze, erinnere sich der Zeuge an Glassplitter oder auch nicht.

Erinnerung auf der Rückbank

Güntürkün hat weitere Experimente auf Lager: Jemand, den wir von früher kennen, erzählt von einem gemeinsamen Erlebnis. Ein Detail hat zwar Plausibilität, stimmt aber so nicht. Beispiel: die erste Käfer-Fahrt, die gefährliche Kurve, die Angst, Manuela auf der Rückbank.

"Manuela war aber nicht auf der Rückbank", beschreibt der Professor den Versuch. Häufige erste Reaktion: "Wir lehnen ab, wir grübeln. Wochen später "erinnern" wir uns: Manuela saß auf der Rückbank."

Im Interesse der Wissenschaft verkündet Güntürkün seinen Mitmenschen eine schonungslose Botschaft: "Ein Teil ihres Lebens ist von ihnen selbst erfunden."

Erinnerungen seien eben keineswegs wie abgespeicherte Dokumente auf einer Festplatte. "Sie sind immer nur ein interpretierter Ausschnitt."

Dass das Gehirn Modifikationen zulassen müsse, liege in der Natur des Menschen und aller Tiere. "Sonst könnte man keine neue Kaffeemaschine bedienen, sondern würde immer wieder bei Null anfangen."

Fotografisches Nachbild narrt uns

Doch das vermeintlich fotografische Nachbild narrt uns. So kommt es zu einem bekannten Phänomen: "In unserer Erinnerung waren wir als Kinder schlauer, erfolgreicher und haben von vornherein gewusst, was später schiefgehen würde."

Tatsächlich passiere Folgendes, erklärt der Biopsychologe: "Im Gehirn kriecht unser später erworbenes Wissen um die Niederlage in unseren Erinnerungsprozess und verändert ihn."

Für Zeugenaussagen sei das von größter Bedeutung. "Juristen sind sich ihrer Rationalität viel zu sicher. Die natürliche Irrationalität des Menschen ist ihnen nicht bewusst. Daraus entstehen viele Probleme."

Jürgen Widder, Vorsitzender des nordrhein-westfälischen Anwaltvereins, kann das nachvollziehen. "Das schwächste Beweismittel ist der Zeuge", räumt er ein. "Im Gerichtsalltag geht das manchmal ein bisschen verloren." Andrerseits können dort auch nicht alles infrage gestellt werden. "Dann käme es zu keiner Entscheidung mehr."

Das ohnehin voll gepackte Jura-Studium mit weiteren Pflicht-Bausteinen zu belegen - etwa zur Taktik von Zeugenaussagen und Psychologie der Sprache - sei schwierig. Aber das Angebot sollte zumindest gemacht werden. "Auch schon an der Universität und als Fortbildung sowieso", unterstreicht der Anwalt.

Als Lehrbeauftragter der Ruhr-Universität beschäftigt sich der Jurist selbst mit solchen Schlüsselqualifikationen. "Wir sollten uns mehr in Selbstkritik und Selbstreflexion üben." (dpa)

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