Haben Sie sich die Szene angesehen, wie Sandro Wieser dem FCZ-Spieler Gilles Yapi das Knie kaputt tritt?
Mehrmals.
Das seitwärts durchgebogene Gelenk – ein schrecklicher Anblick.
Zweifellos. Aus medizinischer Sicht sind die Aufnahmen allerdings interessant, weil man Verletzungsabläufe selten so genau abgebildet findet.
War Ihnen die Diagnose sofort klar?
Als erfahrener Orthopäde sieht man dreidimensional vor sich, was im Knie passiert. Eine klassische Komplexverletzung. Beide Spieler laufen, die Geschwindigkeiten addieren sich. Der Haupttreffer kommt von der Seite. Innenband, Knorpel, Kreuzbänder und der Meniskus reissen. Bildlich gesprochen sind damit zwei von vier Säulen, die das Knie stützen, kaputt.
Sind derart krasse Unfälle selten?
Nein. Im Profifussball kommen Kombinationsverletzungen relativ häufig vor. Als Profisportler arbeitet man im Grenzbereich, wo solche Dinge passieren können. Das muss man akzeptieren.
Wird Yapi wieder spielen können?
Fussball spielen, sicher. Ich glaube aber kaum, dass er es auf professionelles Niveau zurück schafft. Die gerissenen Bänder lassen sich gut ersetzen. Das Problem liegt in den kaputten Knorpeln, wobei ich nicht weiss, wie stark diese bei Gilles Yapi beschädigt wurden. Auf das Knie drücken bei bestimmten Bewegungen Kräfte, die dem Achtfachen des Körpergewichts entsprechen. Knorpel gleichen den grössten Teil dieser immensen Last aus. Ohne sie wirkt der Druck direkt auf die Knochen. Das schmerzt enorm.
Warum heilen Knorpel schlecht?
Sie regenerieren nicht von selber. Es gibt heute verschiedene Verfahren, Knorpelzellen künstlich zu vermehren. Man kann sie aus Stammzellen im Knochenmark gewinnen. Oder man operiert sie aus dem Knie heraus, vervielfacht sie im Labor und setzt sie wieder ein. Dank den verschiedenen Methoden erreichen wir bei bis zu 90 Prozent der Fälle gute bis sehr gute Resultate. Doch für den Spitzensport reicht es meistens nicht.
Trotzdem stehen Profifussballer oft schnell wieder auf dem Feld.
Die Frage lautet, wie lange sie durchhalten. Die Belastung im Spitzensport ist so hoch, dass Schwachstellen schnell zerschleissen. Manche Spieler haben dann mit 35 die Knie von 70-Jährigen. Ein künstliches Gelenk sollte man aber nicht vor dem 55. Lebensjahr einsetzen, da es nur 15 Jahre hält und sich höchstens zweimal ersetzen lässt. In den 20 Jahren dazwischen müssen die Sportler ein stark eingeschränktes Leben erdulden.
Sollten Sie nicht verhindern, dass Sportler zu früh wieder einsteigen?
Fussballer haben nur eine bestimmte Zeit, in der sie spielen und Geld verdienen können. In diesen Jahren wollen sie rasch auf den Rasen zurück, selbst wenn das Gelenk noch lottert. Auch die Vereine, die in die Spieler investiert haben, machen Druck. Ich verstehe das. Trotzdem sind es schwierige Diskussionen.
Sie gehen als Arzt also fragwürdige Kompromisse ein?
Ich würde lügen, wenn ich Nein sagte. Eine Therapie muss sich auch nach der Umsetzbarkeit richten. Wenn jemand deswegen den Job verliert, ist sie nicht viel wert. Medizinische Kriterien zählen nicht absolut. Als Orthopäde weise ich aber immer auf drohende Schäden hin.
In welcher Sportart müssen Athleten möglichst schnell zurückkehren?
Im Fussball, das ist Big Business. Im Skisport etwa geht es weniger ums Geld, da zählen längerfristige Leistung und nationales Prestige. Bei Swiss-Ski gibt man den Sportlern genug Zeit, um eine gründliche Rehabilitation zu machen.
Lässt sich ein Knie dopen?
Mit Cortison und anderen Substanzen kriegt man Entzündungen kurzfristig in den Griff. Dabei macht man den Gelenken aber keinen Gefallen.
Die Skizeit startet bald. Was bedeutet das für Kniespezialisten?
Hochsaison. Sie zieht sich von November bis April. Im Januar und Februar behandeln wir die meisten Verletzten. Die Leute machen Ferien, wagen sich untrainiert auf die Piste. Oft ist Alkohol im Spiel. Am Nachmittag gönnt man sich eine Pause, trinkt ein paar Gläser, der Körper entspannt sich. Auf der letzten Abfahrt erwischt man einen unerwarteten Schlag, das Kreuzband reisst.
Erhöhen Carving-Ski das Risiko?
Ich glaube. Die enge Kurvenführung bringt einen höheren Druck auf Muskeln und Gelenke. Ich kenne allerdings keine Statistiken, die das belegen.
Im Büro ruht das Knie. Sind Knieverletzungen ein Freizeitphänomen?
Fast alle Knieverletzungen geschehen beim Sport. Fussball und Skifahren sind am gefährlichsten, weil sie riskante Drehbewegungen nötig machen. Je mehr Freizeit die Menschen haben, desto häufiger treten Knieverletzungen auf.
Das kaputte Knie als Luxusproblem?
Man darf die psychologische Bedeutung nicht unterschätzen. Viele Menschen stehen beruflich unter hohem Druck. Sie nutzen den Sport, um sich psychisch zu stabilisieren. Wenn dieses Ventil wegen einer Verletzung wegfällt, haben sie Probleme, ihr inneres Gleichgewicht anderweitig herzustellen. Selbstbild und Leistungsverständnis wanken. Ich kann das gut nachvollziehen.
Fahren Sie Ski, spielen Sie Fussball?
Beides. Auf den Ski rase ich aber nicht mehr wie mit 20, ich bin zum Schönwetterfahrer geworden.
Sind Sie immer heil geblieben?
Ich habe meine Knie mehrmals verletzt. Das hilft mir, meine Patienten zu verstehen. Ich weiss aus persönlicher Erfahrung, wie sich das alles anfühlt.
Was fasziniert Sie am Knie?
Es gehört zu den komplexesten Gelenken des Menschen. Gleichzeitig hat es sich evolutionär am wenigsten gut entwickelt. Das Knie setzt sich aus Elementen zusammen, die teils schlecht zueinanderpassen. Es braucht Bänder und Menisken, um die instabile Struktur zusammenzuhalten. Bei einem gewöhnlichen Pfannengelenk wie der Hüfte funktioniert dies einfacher und effizienter. Das Knie bildet einen Schwachpunkt in der menschlichen Anatomie.
Warum diese Fehlentwicklung?
Wir stammen von Vierfüssern ab. Für deren Bedürfnisse reicht die Kniekonstruktion. Durch den aufrechten Gang hat das Knie beim Menschen eine zentrale Funktion bekommen. Es trägt die Hauptlast, die ganze Statik ruht darauf. Das macht es anfällig für Verletzungen.
Bekommen deshalb so viele Menschen im Alter Knieprobleme?
Sie können mit einem Knie 100 Jahre alt werden, ohne dass es Schaden nimmt. Warum zahlreiche Menschen zwischen 40 und 60 an Arthrose erkranken, ist bis heute nicht klar. Aus Veranlagung? Wegen zu viel Sport? Ungesundem Leben? Da gibt es Hunderte von Theorien dazu.
Haben unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Knie?
Durchaus. Menschen im arabischen Raum beten täglich auf ihren Knien. Bei Prothesen muss man daher darauf achten, dass sie sich stark und lange beugen lassen. In Europa ist das nicht nötig.
Wie lebt man knieschonend?
Übergewicht schadet, Bewegung hilft. Fussball und Skifahren sollte man meiden. Joggen geht ohne Probleme, weil das Knie dabei nicht verdreht.
Nützen Kniebeugen?
Sie trainieren die Oberschenkelmuskeln, haben aber den Nachteil, die Kniescheiben stark zu beanspruchen. Je nach Qualität der Kniescheiben kann diese Übung sogar schaden.
Gibt es weitere Vorurteile gegen das Knie, die sich hartnäckig halten?
Momentan herrscht der Glauben, dass man bei Knieverletzungen erst einmal mit dem Behandeln zuwartet oder gar nichts unternimmt. Das ist o. k., solange der Patient das gerissene Kreuzband kaum beansprucht oder sich Stabilität einstellt. Oft trifft das nicht zu. Dann kumulieren sich die Spätfolgen, Knorpel und Meniskus zersetzen sich. Wenn man eine Instabilität nachweisen kann, befürworte ich frühes Eingreifen. Abwarten mag kurzfristig billiger kommen. Später steigen die Kosten um ein Mehrfaches.
Es liegt nahe, dass Sie als Chirurg diese Position vertreten.
Ich behandle meine Patienten so, wie es die Verletzung verlangt. Das Ganze ist ein Reizthema, fast ein Glaubenskrieg. Mir fehlt eine sachliche Diskussion unter Experten, die täglich mit dem Knie zu tun haben. Neuere internationale Studien zeigen aber, dass bei richtiger Diagnose frühes Eingreifen die besten Ergebnisse bringt.
Wenn Sie im Sommer all die nackten Knie betrachten, sehen Sie sofort, ob eines gesund ist oder nicht?
Es gibt klare Anzeichen dafür: die Breite des Gelenks, das Aussehen der Oberschenkelmuskulatur, leichtes Hinken, kurze Schritte. Wer Knieprobleme hat, macht unbewusst Schonbewegungen.
Wann finden Sie ein Knie schön?
Wenn alle Achsen gerade verlaufen und die inneren Strukturen perfekt aufeinander abgestimmt sind. Das sieht man selten, meist nur bei Jugendlichen.
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 15.11.2014, 07:49 Uhr)