«Irgendetwas muss da passiert sein», sagt Stephan Vavricka. Seit 15 Jahren arbeitet der Abteilungsleiter Gastroenterologie und Hepatologie am Zürcher Stadtspital Triemli nun als Magen-Darm-Spezialist. Und seit etwa zehn Jahren, stellt er fest, kommen vermehrt Patienten mit unspezifischen Verdauungsbeschwerden ins Spital. Was da passiert ist, darüber kann Vavricka allerdings nur spekulieren.
Denselben Eindruck hat auch Beatrice Schilling, diplomierte Ernährungsberaterin im aargauischen Baden. Auch sie kann nur mutmassen: «Nehmen Sie zum Beispiel den Weizen, den wir heute essen. Er unterscheidet sich stark vom früheren Dinkel. Oder Brotteig: Früher ging er stundenlang auf, heute geht das im Schnellverfahren. Auch Fructose-gesüsste Getränke sind jetzt gang und gäbe – vor zehn Jahren gab es sie in der Schweiz noch gar nicht.» Solche Faktoren könnten zum Beispiel die Darmflora, die aus Tausenden verschiedener Bakterienarten besteht, verändert haben, was wiederum Verdauungsbeschwerden auslösen könnte, mutmassen die Fachleute. «Aber das ist alles Spekulation», sagt Vavricka.
Eine Therapie für die Menschen, bei denen keine «richtige» Darmkrankheit gefunden wird, hatten die Mediziner lange Zeit nicht. Stress, psychisch, nervös, Einbildung, Quatsch – solche Erklärungen bekamen diese Patienten mit Blähungen, Bauchweh, Verstopfung oder Durchfall oft zu hören. Wie sich jetzt zeigt: zu Unrecht.
Schwer verdauliche Stoffe
«Etwa drei Viertel dieser Patienten hilft eine Fodmaps-Diät», so die Erfahrung von Beatrice Schilling. Fodmap steht für «fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide sowie Polyole». Schilling befasst sich seit zehn Jahren mit diesen verschiedenen Arten von Nährstoffen aus der Klasse der Kohlenhydrate. «Insbesondere bei den Patienten mit Reizdarm bringt eine Fodmaps-Diät einen Riesenfortschritt.»
Der menschliche Körper kann Fodmaps nur teilweise oder gar nicht aufnehmen. Die Folge: Sie landen unverdaut im Dickdarm, erhöhen den Wassergehalt des Darminhalts und werden von verschiedenen Bakterienarten vergoren. Die kleinen Helfer verwandeln die Fodmaps in Fettsäuren und Gase wie Kohlendioxid oder Methan, was zu Blähungen und Schmerzen führen kann. Bohnen und andere Hülsenfrüchte zum Beispiel wirken blähend, weil sie Fodmaps enthalten.
Doch wie diagnostiziert man eine Fodmap-Unverträglichkeit? Von Irisdiagnostik, kinesiologischen Tests, Bioresonanz und anderen nicht wissenschaftlich geprüften Verfahren raten die Fachleute unisono ab. Sie empfehlen ein Vorgehen in drei Schritten: Zuerst sollte man andere Erkrankungen wie zum Beispiel Zöliakie, Morbus Crohn oder eine Darminfektion medizinisch ausschliessen. Dann folgt die Auslassdiät – alle Fodmap-reichen Nahrungsmittel werden für vier bis sechs Wochen aus der Ernährung verbannt.
Das heisst unter anderem: nichts essen, was Weizen enthält, also auch kein Brot und keine Teigwaren. Keine Äpfel, Birnen, Kirschen, Zwetschgen, keine Fruchtsäfte, keinen Honig, keine Milch, keinen Joghurt, keine Kefen, Zwiebeln, auch nichts, was mit Zuckeraustauschstoffen wie Sorbit versetzt ist – über 30 Dinge umfasst die «Negativliste», die Beatrice Schilling zusammengestellt hat. «Wichtig ist aber, dass diese Diät nur in dieser Testphase eingehalten wird.» Fleisch, Eier, Kartoffeln, Reis und gewisse Früchte und Gemüse können dagegen problemlos gegessen werden. Für das von ihr entwickelte Beratungskonzept zu den Fodmaps hat Schilling Ende August den Nestlé-Ernährungspreis 2015 erhalten.
«5 am Tag» tut nicht allen gut
Im dritten Schritt sollen die Patienten nach und nach die verschiedenen Fodmap-Gruppen, beispielsweise Disaccharide, in langsam steigender Dosis wieder zu sich nehmen und ihre «individuelle Toleranz» ermitteln, wie Schilling sagt. «Die Fodmap-Diät ist sehr einschränkend, man sollte deshalb nur weglassen, was man unbedingt weglassen muss.» Wichtig sei eine begleitende Ernährungsberatung, sonst sei die Gefahr von Fehlschlüssen und unnötigen Ein-schränkungen gross. Um den Auslassversuch angenehmer zu machen, hat Martin Wilhelm, Gastroenterologe in der Central-Praxis Zürich, einen Tipp: Fachärzte können mithilfe eines Atemtests vorgängig prüfen, ob eine Milch- oder Fruchtzucker-Unverträglichkeit besteht. «Ist beides ausgeschlossen, kann man zumindest diese beiden Gruppen von Fodmaps in der Diät belassen. Das erleichtert den Auslassversuch», sagt Wilhelm.
Sind die Fodmaps der Grund für die Beschwerden, bessern sich die Symptome meist schon nach einer Woche merklich. Dass ein Placeboeffekt dabei mitspielen kann, liegt auf der Hand. «In den Studien war dieser Effekt aber nicht sehr gross», relativiert Schilling.
Zeigt sich am Ende der Fodmaps-Auslassdiät kein Fortschritt – das ist laut Schilling bei etwa jedem Vierten der Fall – sind wohl nicht die Fodmaps schuld. «Stress, Rauchen, viel Koffein, hastiges Hinunterschlingen – das kann ebenfalls Beschwerden verursachen», erklärt die Ernährungsberaterin.
Hinzu kommt ein psychologischer Aspekt: «Die Menschen beschäftigen sich heute viel mehr mit der Ernährung und mit ihrer Verdauung», geben Vavricka und Wilhelm zu bedenken. Und viele hätten «eine sehr enge Vorstellung» davon, was punkto Stuhlgang und Blähungen normal sei, bestätigt auch Schilling. «Manche müssen dreimal täglich aufs WC, andere halt nur alle zwei Tage. Beides ist normal.» Auch diese Faktoren könnten die Zunahme der Verdauungsbeschwerden zum Teil erklären.
Auch die gut gemeinten Ernährungstipps wie zum Beispiel «5 am Tag» tun nicht allen gut. «Viele Patienten, die zu mir kommen, ernähren sich sehr gesund», sagt Schilling. «Aber Kichererbseneintopf, Fruchtsalat zum Dessert und getrocknete Mangos als Snack verträgt nicht jeder Darm.»
Gut für den Bakterienmix
Auf Vermutung hin – ohne «saubere» Diagnostik und Begleitung durch eine Fachperson – Nahrungsmittel aus dem Speiseplan zu verbannen, halten die Fachleute für keine gute Idee. Ein Patient von ihr zum Beispiel habe sich aus Furcht vor Verdauungsbeschwerden schliesslich nur noch von Poulet und Reis ernährt, berichtet Schilling. Im Extremfall führt das zu sozialer Isolation und zu Mangelerscheinungen.
Auch Pauschalaussagen wie «Lactose ist nicht gesund» widerspricht Beatrice Schilling. «Das stimmt nicht. Ein bestimmter Teil der Menschen verträgt den Milchzucker nicht. Den anderen macht er nichts.» Dasselbe gelte für die Fodmaps. «Der grösste Teil der Bevölkerung verträgt die Fodmaps», sagt Schilling. «Es gibt also keinen Grund, sie vorbeugend wegzulassen.» Überdies fördern Fodmaps die Ansiedlung von «guten» Bakterien im Darm – sie sind also nicht per se schlecht. «Wir wissen da längst noch nicht alles.»
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 22.09.2015, 23:52 Uhr)