Ehegatten gehen bekanntlich ein großes Risiko ein, wenn sie sich zu einer gemeinsamen Autofahrt entschließen, denn wie jeder weiß, kann es dabei zu schweren Konflikten kommen. Soziologen und Sozialpsychologen erklären diese besondere Streitnähe durch einen Umstand, den man leicht übersehen kann, weil er so selbstverständlich ist: Anders als bei einem lebhaften Gespräch, an dem sich jeder mal mit Sprechen und mal mit Zuhören beteiligt, liegen die aktiven und passiven Rollen beim Autofahren langfristig fest.
Das heißt zum einen, dass hier nicht Männer mit ihren Frauen streiten, sondern Handelnde mit ihren Zuschauern. Und es heißt zum anderen, dass auch der von Paartherapeuten gelegentlich anempfohlene Platztausch - sie steuert den Wagen und er schaut ihr zu - das Problem vermutlich nicht lösen wird.
Aber warum ist diese technisch bedingte Rollendifferenzierung überhaupt ein Problem? Warum fällt es der Zuschauerin oder dem Zuschauer so schwer, unkritisch zu bleiben? Und was hindert den jeweils Handelnden daran, Einwänden gegen seinen beziehungsweise ihren Fahrstil nachzugeben oder offenkundige Navigationsfehler einzugestehen? Eine bis heute überzeugende Antwort auf diese Frage hat der amerikanische Psychologe Richard E. Nisbett (geboren 1941) in einer Untersuchung aus den frühen siebziger Jahren gegeben. In einer soeben vorgelegten Buchpublikation erinnert er nicht nur an die Pointe des berühmten Textes, er teilt auch ihre wissenschaftliche Vorgeschichte mit.
Entscheidende Frage: Handelnder oder Zuschauer?
Immer schon hatten Psychologen sich für die Frage interessiert, ob ein bestimmtes Handeln wirklich durch die subjektiven Eigenschaften des Handelnden erklärt werden muss; als rationales Handeln könnte es doch auch durch die Situation bedingt sein, in welcher der Handelnde sich befindet.
Erst der Sozialpsychologe Fritz Heider hat sein Fach auf die Idee gebracht, zu untersuchen, wie die wissenschaftlich ungeschulten Alltagsmenschen solche Zurechnungsfragen beantworten. Dabei hatte man zunächst den Eindruck gewonnen, dass die maßgebliche Ursache so gut wie nie in der Situation gesucht wird. Das hat sich als zu grobe Verallgemeinerung erwiesen. Die Ursache für Misserfolge, vor allem für eigene, findet auch der Alltagsmensch lieber in der Situation als in sich selbst, einfach weil das die schmeichelhaftere Zurechnung ist.
Außerdem macht es - und damit kommen wir zum Thema zurück - für die Ursachensuche einen Unterschied, wie man an der Situation beteiligt ist: ob als Handelnder oder als Zuschauer. Gerade der Handelnde sieht die Gründe seines Verhaltens nämlich typisch nicht in sich selbst, sondern in einer Situation, die ihm keine andere Wahl ließ. Als Anpassung an vorgegebene Sachzwänge erscheint ihm gerade die eigene Handlung objektiv, nicht subjektiv motiviert. Ihren Ausdruckswert hält er für dementsprechend gering: Jeder andere hätte an seiner Stelle genauso gehandelt, und über ihn als besondere Person verrät sie daher nur wenig.
Konflikt schon programmiert
Das sieht der Zuschauer anders: Während der Handelnde mit sich selbst vertraut ist und auch darum auf Eigenbeteiligung nicht so sehr achtet, ist er für den Zuschauer, der seine Innenansicht nicht teilt, ein mehr oder minder unbekanntes Wesen, von dem dieser wenig mehr als das nach außen hin sichtbare Verhalten mitbekommt: Er sieht den Anreiz und die Reaktion darauf, aber nicht die Informationsverarbeitung, die zwischen beiden vermittelt. Also interpretiert er das sichtbare Ereignis mit Hinblick auf unsichtbare Eigenschaften und Zustände des anderen und findet darin die Sicherheit, die er für den täglichen Umgang mit ihm benötigt. Für ihn liegen Gründe der Handlung daher nicht in der Situation, sondern in der Person des Handelnden selbst.
So mag ein Fahrer sagen: Nachdem der Wagen vor mir scharf gebremst hatte, musste natürlich auch ich das tun, während der Beifahrer sagt: Wärest du nicht wieder einmal so dicht aufgefahren, wie es deinem aggressiven Fahrstil entspricht, dann wäre uns auch diese Vollbremsung erspart geblieben. Ebendeshalb ist zusammen mit dem Umstand, dass auch bei gemeinsamen Fahrten immer nur einer am Steuer sitzt, der Konflikt immer schon programmiert: Ehen, so hat der Soziologe Niklas Luhmann das einmal formuliert, werden im Himmel geschlossen und gehen im Auto auseinander, weil man sich dort über Zurechnungsfragen nicht einigen kann.
Nun ist das nicht die ganze Wahrheit, denn auch beim Taxifahren sind wir ja Zuschauer - und doch kommt es, von Extremfällen abgesehen, nicht allein deshalb schon zum Streit mit dem Fahrer. Den Streit unter den Liebenden erklärt daher nur das besondere Interesse, das sie an den Einstellungen des jeweils anderen haben. Der Streit mag ein Ärgernis sein und bleiben - aber erst wenn er einmal ausbliebe, müsste man sich ernsthaft Sorgen machen.