Ein kleiner Pikser in den Finger genügt. Der Heilpraktiker entnimmt etwas Blut, mischt es behutsam mit einer Lösung und lässt das Ganze in einer Plastikschale miteinander reagieren. Später giesst er weitere Flüssigkeiten hinzu, und nach gut vierzig Minuten beginnen am Boden der Plastikschale zahlreiche Punkte blau zu schimmern. Jeder Punkt bedeutet ein Nahrungsmittel, mit dem das Blut reagiert.
Das Resultat des Selbstversuchs ist so deutlich wie vernichtend: «Einen so dunklen Fleck wie bei der Kuhmilch habe ich noch selten gesehen», sagt der freundliche Herr, der den Test durchgeführt hat. Das Lebensmittel sei künftig zu meiden. Auch Weizen und Ei sollten nur noch selten gegessen werden. Verdächtig sind ausserdem Hafer, Reis, Mais, Hartweizen, Gluten, Hülsenfrüchte, Mandeln und Erdnuss.
Food Detective heisst der Test, der im Blut eine Intoleranz auf Nahrungsmittel nachweisen soll. Dem Allergiearzt Brunello Wüthrich ist er ein Graus: «Das Diagnoseverfahren ist nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht geeignet für den Nachweis von Nahrungsmittelintoleranzen», sagt der emeritierte Professor und langjährige Leiter der Allergiestation am Universitätsspital Zürich (USZ). Food Detective ist einer von verschiedenen Intoleranztests, vor denen Allergiespezialisten seit Jahren warnen. Ähnliche Untersuchungsmethoden, die in der Schweiz angeboten werden, heissen Allergo-Screen und Imuscan. Sie messen sogenanntes Immunoglobin G (IgG-Antikörper) im Blut, das mit Nahrungsmitteln reagiert. Bei all diesen Tests gilt: Der Antikörpernachweis ist zwar meist zuverlässig, die Interpretation der Resultate jedoch falsch. Denn mit dieser Methode lässt sich eine Intoleranz gegen Nahrungsmittel gar nicht nachweisen.
«Erhöhte IgG-Werte sind eine normale Folge davon, dass sich das Immunsystem mit den Antigenen der aufgenommenen Nahrung auseinandersetzt», sagt Wüthrich. Oft richten sich die IgG-Antikörper gegen Nahrungsmittel, die vorher gegessen wurden. Kein Wunder also, dass entsprechende Tests häufig Unverträglichkeiten gegen Weizen, Milch und Ei anzeigen. Beim Food Detective sollen rund drei Viertel der getesteten Personen positiv auf diese Nahrungsmittel reagieren, heisst es beim Schweizer Vertrieb Komstar.
Mangelernährung als Folge
Selbst wenn keine handfesten gesundheitlichen Probleme vorliegen, kann eine Food-Detective-Analyse stark verwirren. Wer leidet nicht gelegentlich unter grosser Müdigkeit, Magen-Darm-Störungen oder Kopfschmerzen? Kommt dies wirklich von zu viel Arbeit und Kaffee – oder nicht doch von der falschen Ernährung? Noch grösser ist die Verunsicherung bei Patienten, die aus anderen Gründen tatsächlich Beschwerden haben. Denn zahlreiche Symptome seien die Folge einer Nahrungsmittelunverträglichkeit, wird auf der Website von Food Detective behauptet. Die dort angeführte Liste reicht von Asthma und Übergewicht bis zu Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom oder Erschöpfung.
Die Allergologen-Fachgesellschaften des deutschsprachigen Raums kritisieren IgG-Messungen zur Abklärung und Diagnostik von Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Diese seien «ungeeignet und strikt abzulehnen», schrieben sie vor einigen Jahren, gestützt auf einen Report der Europäischen Akademie für Allergologie und Klinische Immunologie (EAACI). Dabei ist die Bestimmung von IgG nicht zu verwechseln mit Messungen der Allergieantikörper IgE. Diese gehören zum festen Repertoire von Allergologen und liefern Hinweise darauf, ob eine Allergie auf einen bestimmten Stoff vorliegt. Für eine korrekte Diagnose sind allerdings weitere Abklärungen nötig, denn ein positives Resultat bedeutet nicht, dass tatsächlich eine Allergie auf diesen Stoff vorliegt.
In eine ähnliche Kategorie wie die dubiosen IgG-Bestimmungen gehören sogenannte cytotoxische Bluttests, die in der Schweiz zum Beispiel unter dem Namen Alcat-Test angeboten werden. Bei diesen Verfahren werden die weissen Blutkörperchen in Blutproben mit Lebensmittelextrakten stimuliert und aus der Reaktion der Zellen vermeintliche Nahrungsmittelintoleranzen abgeleitet. «Internationale Fachorganisationen raten schon seit den 80er-Jahren immer wieder von diesen Tests ab, weil deren Nutzen nie in wissenschaftlichen Studien gezeigt werden konnte», so Brunello Wüthrich.
Patienten, die nach dubiosen Nahrungsmitteltests völlig verunsichert sind, landen oft in den Praxen der Allergiespezialisten. Die Betroffenen bringen dann meist eine lange Liste mit Nahrungsmitteln, auf die sie verzichten sollen. Nicht selten betreffen die Diätempfehlungen mehrere wichtige Grundnahrungsmittel, was besonders bei Kindern problematisch ist und zu Mangelernährung führen kann.
Patienten schockiert
Auch auf der Allergiestation am Zürcher Unispital treffen die Ärzte immer wieder auf solche Fälle. «Die Patienten sind häufig erleichtert, wenn sie erfahren, dass ihr Nahrungsintoleranztest bedeutungslos ist», sagt Peter Schmid, heutiger Leiter der Allergiestation. Andere seien gar schockiert darüber, dass sie vergebens eine anstrengende Diät gehalten hätten.
In der Schweiz haben die Ärzte der Schweizerischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie (SGAI) vor zwei Jahren erreicht, dass die Grundversicherung solche Tests nicht mehr vergütet. Trotzdem scheint der Trend zu Intoleranztests ungebrochen. Allergiespezialist Wüthrich spricht gar von einem Boom. Tatsächlich können die Anbieter häufig ihre mehrere Hundert Franken teuren IgG-Tests dennoch teilweise über die Krankenkassen abrechnen. Im Fall von Food Detective wird den Anbietern empfohlen, rund 200 Franken für den Test zu verlangen. Davon sollen sie 80 Franken als normale Konsultation abrechnen – im Fall von Ärzten via Grundversicherung, bei Heilpraktikern über eine Zusatzversicherung. Die restlichen Kosten muss der Patient selbst übernehmen.
Wie häufig solche Intoleranztests zum Einsatz kommen, ist nicht bekannt. Doch offensichtlich lässt sich damit Geld verdienen, auch das zeigt Food Detective. Anbieter ist das britische Unternehmen Omega Diagnostics, das zahlreiche, auch seriöse Labortests im Angebot hat. IgG-Tests sind jedoch eine tragende Säule. Mit ihnen macht die Firma laut dem aktuellen Jahresbericht mit 6,5 Millionen Franken rund 40 Prozent des Umsatzes. Beim Food Detective steigerte Omega Diagnostics die Verkäufe um 27 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 1,8 Millionen Franken. Besonderes Wachstum erhofft man sich in den Ländern Brasilien, China und Indien.
«Extrem gute Erfahrungen» – und fehlende Studien
In der Schweiz vertreibt die Firma Komstar AG den Food-Detective-Test exklusiv. Auf der Website sind 75 Kunden aufgelistet, die den Test anbieten. Darunter Heilpraktiker und Ernährungsberater, ein beachtlicher Teil sind auch Ärzte mit FMH-Titel. Verwaltungsratspräsident von Komstar ist John van Limburg Stirum, Facharzt für Innere Medizin. Er ist ausserdem ärztlicher Leiter der Seegarten Klinik Kilchberg ZH-, die von blutreinigenden Infusionen bis zur Darmspülung verschiedene umstrittene Therapien der Komplementärmedizin anbietet.
Van Limburg Stirum lässt sich von der Kritik von Allergologen wie Brunello Wüthrich nicht beeindrucken. «Wir haben extrem gute Erfahrungen gemacht mit dem Test – nicht auf Basis wissenschaftlicher Daten, jedoch auf Patientenebene», sagt er zum Intoleranztest Food Detective. Es gebe aber durchaus auch wissenschaftliche Untersuchungen, welche die Zweckmässigkeit des Tests belegen würden – allerdings keine qualitativ hochstehenden Studien. «Ich wäre sofort dabei, könnten wir dafür einen Sponsor finden», sagt er.
Auch Omega Diagnostics räumt ein, dass die Studienlage bei IgG-Tests nicht gut sei. «Wir arbeiten weiterhin mit Institutionen zusammen, um künftig die nötigen Belege zu liefern», schreibt Marketingdirektor Jag Grewal auf Anfrage. Für Brunello Wüthrich ist dies ein leeres Versprechen. «Solche Aussagen hören wir seit Jahrzehnten», sagt er. «Den Patienten wird Wissenschaftlichkeit vorgegaukelt, obwohl keine dahintersteckt.»
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 24.04.2014, 00:06 Uhr)
Jeder Vierte glaubt, auf Nahrungsmittel allergisch zu sein
Die Häufigkeit von Nahrungsmittelallergien wird in der Bevölkerung massiv überschätzt. Befragungen zeigen, dass rund jeder Vierte glaubt, an einer solchen zu leiden. Diagnostizieren lassen sich solche Allergien allerdings nur bei 2 bis 4 Prozent der Erwachsenen. Bei Kindern sind sie mit 7 bis 10 Prozent verbreiteter. Meist sind allergische Reaktionen auf Lebensmittel die Folge einer Pollenallergie, bei der das Immunsystem in einer Kreuzreaktion auch auf Nahrungsmittel wie Apfel, Karotte oder Sellerie reagiert.
Die falsche Einschätzung der Häufigkeit von Allergien liegt teilweise daran, dass viele sie mit Intoleranzen verwechseln. Bei Letzteren ist laut der Definition der Europäischen Akademie für Allergie und Klinische Immunologie (EAACI) das Immunsystem nicht beteiligt. Häufig handelt es sich um die sogenannte Fructose-Malabsorption, die in westlichen Ländern schätzungsweise bei rund 30 Prozent der Bevölkerung vorkommt. Betroffene können das Fruchtzucker-Molekül im Darm nicht aufnehmen. Die Folge können Durchfall und Blähungen sein. Verbreitet ist auch die Lactose-Intoleranz, die zu den sogenannten enzymatischen Intoleranzen gehört. Betroffen sind 15 bis 20 Prozent der westlichen Bevölkerung, weltweit gar 75 Prozent. Ihnen fehlt im Erwachsenenalter das Enzym Lactase, welches die Laktose (Milchzucker) spaltet. Auch sie sind von Blähungen und Krämpfen betroffen, wenn sie Nahrungsmittel mit grösseren Mengen von Milchzucker zu sich nehmen.
Seltene Gluten-Unverträglichkeit
Weitere, seltenere Intoleranzen sind eine Reaktion auf biologisch aktive Substanzen in Nahrungsmitteln oder Medikamenten. Das können beispielsweise biogene Amine, vor allem Histamin, aus fermentierten Produkten wie Käse, Sauerkraut oder schweren Rotweinen sein. Auch gewisse Konservierungsmittel wie Sulfite, vor allem aus Weisswein, aber auch in Champagner, können für Intoleranzreaktionen sorgen.
Bekannt, aber nicht sehr häufig ist die Gluten-Unverträglichkeit. Zu der im Fachjargon Zöliakie genannten Erkrankung gibt es die unterschiedlichsten Häufigkeitsangaben, die sich aber alle deutlich unter einem Prozent bewegen. Ursache ist Überempfindlichkeit auf das Klebeeiweiss Gluten, das in vielen Getreidesorten vorhanden ist. Die Folge sind Entzündungsreaktionen im Darm. Weil dabei das Immunsystem beteiligt ist, zählt Zöliakie formell nicht zu den Nahrungsmittelintoleranzen.
(Felix Straumann) (Tages-Anzeiger)