Erzählt Reinhart Czisch von den Ereignissen des Jahres 1948 in Gmünd, fällt irgendwann der Satz: „Für uns war dies beinahe eine Replik der Kristallnacht.“ Reinhart Czisch war damals zwölf Jahre alt. Er erlebte, drei Jahre nach Kriegsende, wie sein Vater Franz Czisch dem ehemals aktiven Nationalsozialisten Franz Konrad im Oberbürgermeister-Wahlkampf unterlag. Wie der Vater im Wahlkampf gedemütigt wurde. Das ist, sagt Reinhart Czisch, in Gmünd bis heute „nicht aufgearbeitet“.
Geht Reinhart Czisch heute vom Café Margrit am Johannisplatz, das er aus seiner Kindheit noch kennt, zum elterlichen Haus am Marktplatz, wählt er nicht den Weg an der Johanniskirche vorbei, er geht durchs Freudental. Die Parallelgasse. Den vertrauten Weg. Denn im Haus neben dem Marktplatz 23 wohnte damals, in den späten 40er und frühen 50er Jahren, einer seiner besten Freunde. „Wir konnten uns von Haus zu Haus rufen“, erinnert sich Czisch. Kindheitserinnerungen. Schöne Erinnerungen. Der 76-Jährige, der heute in Tübingen lebt, hat Gmünd wenige Jahre danach, 1954, verlassen. Er wechselte vom Parler Gymnasium nach Bad Wurzach an eine Klosterschule. Seine Eltern hatten ihn dorthin geschickt, schlechter Schulnoten wegen. Wurzelnd im Jahr 1948.
Reinhart Czischs Vater Franz war von 1946 bis 1948 Oberbürgermeister in Gmünd. Seine Frau Katharina war Mitinitiatorin der Gmünder Nothilfe, die sich nach 1945 um die Vertriebenen kümmerte, die in die Stadt kamen. Franz Czisch, 1908 in Bamberg als Sohn des jüdischen Kaufmanns Arnold Czisch und dessen katholischer Frau Lina geboren, stammte aus wohlhabendem Haus. Seine Frau Katharina, die „Arierin“, kam aus einer durch Krieg und Inflation verarmten Familie. Gemeinsam war beiden ihr Interesse an Musik, Literatur und Politik. Beide studierten in Freiburg, Köln und Berlin Jura. Ihre Berufe auszuüben, war ihnen in der Nazizeit verwehrt, wegen Czischs jüdischer Herkunft. Das Ehepaar kam deshalb 1934 nach Gmünd. Sie heirateten am 23. April 1934 in St. Franziskus. Am Marktplatz 23 betrieben die beiden Juristen ein Süßwarengeschäft, eines von etwa 20 Geschäften, die Czischs Familie besessen hatte. Und das zu jener Zeit einzig verbliebene, nachdem die anderen Geschäfte der Familie „arisiert“ worden waren.
1946, genau am 1. Juli, wählte der Gemeinderat erstmals nach dem Krieg den Oberbürgermeister. Die Wahl fiel auf Franz Czisch. Er hatte kandidiert in dem Vertrauen, dass man Leute wie ihn nach 1945 brauche, um etwas Neues aufzubauen. Franz Czisch war zu diesem Zeitpunkt bereits Gemeinderat, Kulturbeauftragter der Stadt, er war Mitbegründer der örtlichen CDU, die am 2. Dezember 1945 im Saal der Fuggerei ins Leben gerufen worden war, und Flüchtlingskommissar.
Zwei Jahre später, Anfang 1948, konnten die Bürger erstmals nach dem Krieg ihr Stadtoberhaupt direkt wählen. Gegen Czisch trat der frühere Oberbürgermeister der Nazizeit an, Franz Konrad, und erreichte fast eine Zweidrittelmehrheit. Gmünds Stadtarchivar Dr. Klaus-Jürgen Herrmann und der Historiker Dr. Ulrich Müller erklären dies in ihrer „Kleinen Geschichte der Stadt Schwäbisch Gmünd“ mit Konrads „langer Amtszeit“ vor Czisch von 1934 bis 1945, vermuten aber auch „Vorbehalte gegen Czisch, weil er sich als Flüchtlingskommissar zu sehr für die Belange der Vertriebenen eingesetzt hatte“. Die Amerikaner jedoch fanden sich nicht damit ab, erzählen Müller und Herrmann, dass „in einer deutschen Mittelstadt ein ehemaliger aktiver Nationalsozialist mit einer derart überzeugenden Mehrheit zum Oberbürgermeister gewählt wurde“. Sie setzten einen Untersuchungsausschuss ein, der es Konrad nicht gestattete, das Amt des Oberbürgermeisters anzunehmen.
Für die Familie „lähmend“
Für Reinhart Czisch war dies eine gewisse Genugtuung, da er 1948 miterlebt hatte, was seine Mutter Katharina 1988 in einem Interview so beschrieb: „Eingeworfene Fensterscheiben, das Auto in der Rems, Zionsterne auf dem Marktplatz und ein Lautsprecherslogan, der über den Gmünder Marktplatz hallte: ‘Wählt nicht das Kommunistenpack, das euch aus der Heimat vertrieben hat, niemals Moskau, niemals Czisch’ “. Die Freunde seiner Kindheit zogen sich von ihm ohne Erklärung zurück, erinnert sich Reinhart Czisch. „Halbwüchsige Jugendliche“ nahmen ihm sein Fahrrad weg und drohten ihm Prügel an. „In unserem Haus war die Wahlkampfzentrale, die Wahlhelfer für Czisch wurden zum Teil blutig geprügelt“, erzählt er weiter. Für die Familie sei all dies „lähmend“ gewesen, ihn habe dies als Zwölfjährigen „sehr beeinträchtigt“. „Für mich“, sagt Reinhart Czisch, „waren die dramatischeren Ereignisse die nach dem Krieg.“
Dabei hat Reinhart Czisch schon an die letzten Kriegstage düstere Erinnerungen. Sein Onkel Heinrich Probst, der Bruder seiner Mutter, wurde kurz vor Kriegsende in der Nacht vom 19. auf den 20. April gemeinsam mit Robert Haidner vor den Toren der Stadt von den Nazis erschossen. Er hatte in der Öffentlichkeit gerufen: „Es lebe die Freiheit, es lebe Stauffenberg.“ „Zwölf Jahre Leben gegen eine mörderische Diktatur, in deren Verdammung die Mehrheit des deutschen Volkes sich heute einig ist, der sie einst aber in ihrer Mehrheit erlag“, so beschreibt Katharina Czisch den Werdegang ihres Bruders in dem Gespräch aus dem Jahr 1988, veröffentlicht in „Zeitzeugen berichten . . . Schwäbisch Gmünd – Erinnerungen an die Zeit von 1930 bis 1945“. Katharina Czisch erzählt von Berufsverboten, Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, Wehrunwürdigkeit, Isolierung, Arbeitseinsatz in Frontnähe und dem Ende, dem Ruf „Nieder mit Hitler, es lebe Stauffenberg“. Wenige Stunden nach der Erschießung Heinrich Probsts besetzten die Amerikaner die Stadt. Dieses Ereignis schildert der Neffe Czisch als Wendepunkt von der als „überwiegend angenehm“ empfundenen Kindheit zum Beginn seines politischen Erwachens. Denn die Eltern, sagt er, hatten ihren fünf Kindern aus gebotener Vorsicht nicht viel über das verbrecherische Regime der Nazis erzählt.
Zurück ins Jahr 1948. Das schlimmere. Die zertrümmerten Scheiben und das Auto in der Rems, dies seien die „richtig ernsthaften Belastungen“ gewesen, sagt Czisch. Von da an habe er sich in Gmünd nicht mehr wohlgefühlt. „Es war ein Gefühl unerklärlicher Isoliertheit, das durch das stillschweigende Ende der Freundschaften entstanden war.“ All dies, obwohl Czisch überzeugt war, dass sein Vater für Gmünd Positives bewirkt hatte. Die Wasserversorgung vom Rechberg zum Beispiel, die die Gmünder heute noch die Czisch-Linie nennen, der Anschluss an die Landeswasserversorgung, als das Wasser knapp wurde.
Dass die Gmünder 1948 Franz Konrad wählten, führt Reinhart Czisch nicht allein auf zu viel Fürsorge des Vaters für die Vertriebenen zurück. Er sieht mehrere Gründe. Die CDU Adenauers habe die Ahlener CDU, die CDU mit dem in Ahlen verabschiedeten deutlich sozialeren Programm, „kassiert“. Konrad sei Kandidat der CDU gewesen, sein Vater habe dagegen das „stark linke Programm der CDU“ vertreten. Aber Czisch sieht auch „Reste von Antisemitismus“, „Ressentiments gegen Reigschmeckte“ und eben Franz Czischs starkes Engagement für Vertriebene. Dies sei so weit gegangen, dass sein Vater für Vertriebene Wohnungen beschlagnahmt hatte. Dass gerade dann viele der Vertriebenen ins Konrad-Lager gingen, versteht Reinhart Czisch bis heute nicht.
„Keinerlei Würdigung“ für Czisch
„Das alles begleitet mich, hat jedoch nicht mein ganzes Leben beeinflusst“, sagt der heute 76-jährige Diplom-Psychologe, der von Bad Wurzach zum Studium der Psychologie und Medizin nach Tübingen und von dort nach Hamburg und München wechselte, wo er das Psychologie-Diplom ablegte. Psychologie studierte er nicht zuletzt unter dem Eindruck des Dritten Reiches. Er hoffte, so zu verstehen, „wie es möglich war, dass beinahe ein ganzes Volk sich, wie das deutsche, zu einer so unmenschlichen Ideologie hatte verführen lassen“.
So wie ihr Bruder Reinhart konnten Czischs vier Geschwister mit der Gmünder Geschichte der Familie nicht umgehen: „Für sie hat das die ganze Stadt zugemacht“, sagt er. Und Franz Czisch? „Er war eine agile Person mit starken musischen Interessen und Fähigkeiten, auch während der Nazizeit.“ Doch der Wahlkampf 1948 habe ihn „psychisch umgebracht“. Er habe nie mehr eine politische Tätigkeit ausgeübt, sei ein gebrochener Mann gewesen und habe sich, um die Familie zu ernähren, in das ungeliebte Süßwarengeschäft am Marktplatz zurückgezogen, das er um weitere vier Filialen in Stuttgart und Ulm ausbaute.
Er zog im Juli 1956 mit der Familie nach Stuttgart, wo er Ende des Jahres bei einem Autounfall ums Leben kam. Seine Frau Katharina half in Stuttgart, das Kinderhilfswerk „terre des hommes“ aufzubauen. Mit Manfred Rommel sorgte sie dafür, dass kriegsversehrte Kinder aus Vietnam in Stuttgarter Kliniken behandelt wurden. Katharina Czisch starb 1999 in Stuttgart. Nach Gmünd, sagt Reinhart Czisch über seine Mutter, kam sie fast nur zurück, wenn Ortrud Seidel, die Autorin des Buches „Mut zur Erinnerung. Geschichte der Gmünder Juden“, über lange Jahre regelmäßig am 19. April Gedenkveranstaltungen für ihren Bruder Heinrich Probst und für Robert Haidner ausrichtete. Eine städtische Gedenkveranstaltung, sagt ihr Sohn Reinhart, hat es nie gegeben.
Schwäbisch Gmünd hat die Versöhnung mit Familie Czisch versäumt. Vielleicht war die Zeit bis 1956 für eine Versöhnung mit Franz Czisch nicht reif. Eine Versöhnung mit Katharina Czisch wäre jedoch möglich gewesen. Die Tafel, die im Rahmen der „Gmünder Frauenwege“ am Marktplatz 23, dem ehemaligen Süßwarenladen, im November 2006 angebracht wurde, ist allenfalls ein Ansatz, sieben Jahre nach ihrem Tod. Mit den Geschwistern Reinhart Czischs wäre eine Versöhnung noch möglich. Sie könnte an die Ereignisse von 1948 erinnern. Denn eine Aufarbeitung dieser Geschehnisse vermisst Reinhart Czisch bis heute. „In Gmünd ist jede Gelegenheit genutzt worden, dies nicht anzusprechen“, sagt er. Sein Vater habe nach 1948 „keinerlei Würdigung durch die Stadt erfahren“.
Und Reinhart Czisch selbst? Eine Versöhnung, den Eindruck macht der 76-Jährige, braucht es mit ihm nicht. Er kommt immer wieder nach Gmünd, besucht Konzerte des Festivals Europäische Kirchenmusik, zeigt seinen Kindern die Stadt, das frühere Süßwarengeschäft. Mit seinem engsten Freund aus der Kindheit hat er sich seit einigen Jahren versöhnt, er unterhält einen lebhaften Kontakt mit ihm ins ferne Bremen. Über eine Würdigung seiner Eltern aber, sagt Czisch, würde er sich freuen. Ein Antrag der SPD-Fraktion im Gemeinderat im Frühjahr 2011, „dass Franz Czisch und seine Frau Katharina eine Würdigung durch die Stadt erfahren sollten, in welcher Form auch immer“, war für ihn und die Familie deshalb „ein Fanfarenzug“.
Die Stadt Gmünd nimmt diesen Antrag der Sozialdemokraten auf, befürwortet eine Würdigung ihres früheren Oberbürgermeisters Franz Czisch. Sagt Stadtsprecher Markus Herrmann. Denn Gmünd wolle die Nachkriegszeit aufarbeiten. Dazu sei nun genügend zeitlicher Abstand. Ein Weg ist zum Stadtjubiläum 2012 der Pfad der Geschichte durch die Stadt. Da wird der Name Czisch ein größerer Schwerpunkt sein, sagt Herrmann.
Vielleicht ist dies die Aufarbeitung, die Reinhart Czisch, Sohn des ersten frei gewählten Gmünder Nachkriegsoberbürgermeisters Franz Czisch und der Mitinitiatorin der Gmünder Nothilfe Katharina Czisch, immer wieder anmahnt. Der seine Erinnerungen als Appell an die junge und ältere Generation versteht, sich einzumischen und sich zu engagieren. Leise. Unaufdringlich. Ohne Vorwürfe. Aber doch beständig. Michael Länge