«Die heutige Erziehung stellt Kinder nicht mehr auf die Probe»

«Der Vater ist tot, das Kind ist ­König.» So könnte man die Analyse in Ihrem Buch zusammenfassen. Was ist in der Erziehung passiert?

Ich stamme aus einer Generation, die sich als Opfer einer repressiven judäisch-christlichen Kultur verstanden hat – vor allem im Bereich der Sexualität. Ich glaube aber nicht, dass diese Kultur in der Gesellschaft noch über Einfluss verfügt. Es dominiert die Kultur der Therapie, die Mitgefühl über alles setzt und pathologisch geworden ist. Ich nenne sie «psychiatrische Neurose» oder «Psyrose».

Sie selber sind ja auch Therapeut.

Ja, aber ich beklage, dass die Therapiekultur die Kliniken verlassen und die Mentalität in allen Lebensbereichen vergiftet hat. Den grössten Einfluss hat die «psychiatrische Neurose» in der Erziehung. Der heute praktizierte Erziehungsstil ist pathologisch.

Inwiefern?

In den 1970er-Jahren galt das Verbot als Ursache aller Pathologien. Autorität wurde mit Misshandlung gleichgesetzt. Die Autoritäten mussten gestürzt werden. Und die Urform der Autorität ist der Vater. Der Vater musste sich in den «neuen Vater» verwandeln. Dieser erzieht das Kind mit weniger Autorität. Verbote gelten nicht mehr den Kindern, sondern den Eltern. Diese dürfen nicht bestrafen, nicht streng sein.

Stellen Sie als Supervisor im ­Bildungsbereich Ähnliches fest?

Ja. Die Erzieher halten sich bei Interventionen zurück, weil die Psychologen ein Suizidrisiko befürchten. Es ist nicht mehr erlaubt, einen Suizidversuch nicht nur als Hilfeschrei, sondern auch als Form der Erpressung zu sehen. Ich erinnere mich an ein Heim, wo die Kinder bei jeder Bemerkung der Erzieher so taten, als ob sie sich gleich die Pulsadern aufschneiden würden. Die Erziehung im Zeichen der «Psyrose» sorgt dafür, dass jugendliche Aufmüpfigkeit zu einem ­klinischen Fall zu werden droht.

Haben Sie als 68er die Befreiung von den Autoritäten nicht genossen?

Meine Generation hat daran geglaubt. Ich habe sogar meine Diplomarbeit an der Universität Genf über den «neuen Vater» geschrieben. Aber bereits damals hatte ich den Verdacht, dass sich manche Männer vor der beruflichen Realität in die Vater-Rolle flüchteten.

Hatte das nicht eher mit dem ­Anspruch der Frauen zu tun, einen Teil der Hausarbeit abzugeben?

Es war beides. Ich selber war ein «neuer Vater». Ich habe mein Pensum als Lastwagenfahrer und später als Leiter einer Bildungsinstitution nach der Geburt der Kinder reduziert. Oft habe ich die Kinder ins Büro mitgenommen, während ihre Mutter studiert hat.

Und jetzt sind Sie konvertiert?

Ich bin konvertiert aufgrund der Erkrankung der Gesellschaft an «Psyrose». Sie ist dem Wahn verfallen, die Nähe des ­Vaters zu den Kindern sei für diese essenziell. Meine Überzeugung ist: Der Vater muss Distanz zu den Kindern bewahren. Natürlich darf er mit den Kindern spielen, er sollte es aber nicht zu oft tun.

Warum nicht?

Das Kind braucht eine Bezugsperson, die anders ist als die Mutter. Der Vater sollte nicht eine zweite Mutter sein. Der Vater muss dem Kind die Tür zur Aussenwelt öffnen.

Und Sie glauben, dass der Vater 
«der grosse Schweigende» sein soll, wie Sie in Ihrem Buch schreiben?

Natürlich haben die Männer gelitten, die sich bei mir über unzugängliche Väter beklagen. Aber ich sage solchen Klienten jeweils: «Sie hat das ja stark gemacht. Sie haben etwas erreicht.»

Gerade in der Pubertät ist es aber doch wichtig, dass ein Jugendlicher mit dem Vater streiten kann.

Die «Psyrose» will aber keinen Vater, der mit dem Sohn kämpft. Dem Vater wird heute oft vorgeworfen, dass er nicht wie die Mutter sei. In dreissig Jahren therapeutischer Tätigkeit habe ich noch nie einen Klienten erlebt, der Gutes über seinen Vater gesagt hätte. Meist heisst es: «Mein Vater hat mir nie gesagt, dass er mich liebt. Er hat nie Fussball gespielt mit mir. Er war nicht nett zu meiner Mutter.» Dabei wird dem Vater indirekt vorgeworfen, er sei nicht wie die Mutter.

Aber es ist ja ein kindliches ­Bedürfnis, dass sich die Eltern vertragen.

Das sagen zumindest meine Klienten. Solche Aussagen sind geprägt von der Mutter: Sie verlangt vom Vater, dass er dem Kind dieselbe Aufmerksamkeit schenkt wie sie selber. Eigentlich geht es aber um etwas anderes, nämlich darum, dass die Mutter den Eindruck hat, ihr Mann schenke ihr zu wenig Aufmerksamkeit. Sie projiziert dieses Bedürfnis auf das Kind. Daher glaubt man heute, dass man einem Kind das Gefühl geben muss, es sei wichtig.

Was soll falsch daran sein?

Jeder Schauspieler und Sportler meint, in Interviews seine Kinder erwähnen zu müssen. Für dieses Phänomen habe ich den Begriff der «pedolâtrie» geschaffen. Wer ist das erste Opfer dieser Fixierung? Das Kind selber, das diese übertriebene Aufmerksamkeit schlecht erträgt. Die Gefahr ist gross, dass es dadurch zum Narzissten wird. Es wird immer um Aufmerksamkeit kämpfen. An einem Kongress über kindliche Schlafstörungen hat ein Vater erzählt, dass er seinem Kind jeden Abend eine Geschichte erzählen müsse, weil das Kind nachts sonst jede Stunde aufwachen würde.

Kinder brauchen Alltagsrituale.

Das war kein Einschlafritual, das war ­Erpressung. Viele Kinder üben eine für beide Seiten ungesunde Macht über ihre Eltern aus – und alle denken, das müsse so sein. Ich riet dem Vater, er solle während der Ferien keine Geschichte mehr erzählen. Er sagte mir danach, es habe ­geklappt, das Kind sei nicht mehr aufgewacht in der Nacht. Dafür habe er Streit mit seiner Frau. Sie ist Psychologin.

Was sagen Sie Eltern, die aus ­Verzweiflung Ihre Kinder zu Ihnen in die Therapie schicken wollen?

Ich sage ihnen: «Ich will nicht Ihr Kind sehen, sondern Sie.» Das Problem in der Erziehung ist, dass die Mutter diktiert, wie sich der Vater verhalten soll. Und die Mutter will ihn als zweite Mutter. Der Vater muss seinen Platz wieder finden. Die Rolle der Psychologen sollte dabei sein, Eltern und Erziehern wieder das Recht auf Autorität zurückzugeben, das sie ihnen genommen haben.

Der Vater soll zum Kind auf Distanz gehen?

Genau. Telemach hat seinen Vater Odysseus zwanzig Jahre lang nicht gesehen und ist trotzdem ein Held geworden.

« Der Vater 
sollte nicht 
eine Art zweite Mutter sein.»Alain Valterio

Ist das wirklich Ihr Idealbild?

Nein, ich stelle nur fest: Die Therapiekultur ist überall. Sie findet sich in der Sprache, in der Erziehung, in der Bildung und sogar in der Wirtschaft. Als Jungianer suche ich die Mythen, welche die Gesellschaft prägen. Der Mythos des Patriarchats ist tot. Er ist ersetzt worden durch den Mythos des «guten Therapeuten», durch den Glauben, dass ein Kind mit Psychologie erzogen werden könne.

Es gibt zu viele Therapien und zu wenig Bestrafung?

Als Psychoanalytiker ist es nicht meine Aufgabe zu sagen, was man tun sollte. Ich gehe vielmehr den Ursachen der aktuellen Neurosen auf den Grund. Ich will nicht das Patriarchat wieder einführen.

Sie bedauern aber doch ein wenig, dass es zusammengebrochen ist.

Nicht wirklich. Mein nächstes Buch wird die Rolle der Männer beleuchten. Die Männer haben heute das Gefühl, sie müssten ein guter Ehemann und ein guter Vater sein, um als guter Mann zu gelten. Die Männer haben die Orientierung und ihre Würde verloren. Ich bin überzeugt, dass noch viel mehr junge Männer aus dem Westen sich dem Islamischen Staat anschliessen werden. Das Einzige, was man heute von einem Knaben noch erwartet, ist, dass er nett zu den Mädchen ist. Eine Erziehung, die auf die Bedürfnisse der Knaben zugeschnitten ist, gilt heute als tabu.

Sie möchten wieder Initiationsriten?

Nein, es geht nicht darum, die Initiationsriten wieder zu beleben. Man nennt heute aber oft Gewalt, was eigentlich Ini­tiationsritus ist – in den Schulen und anderswo. Es gibt heute keinen Vater mehr, der einem Knaben sagt, dass er genügend Kraft hat, um das Leben zu ertragen.

Und Sie glauben, dass junge Männer zum Islamischen Staat gehen, weil ihnen die Initiationsriten fehlen?

Diese jungen Männer wollen auf die Probe gestellt werden. Die heutige Erziehung beschützt und stellt nicht mehr auf die Probe. Es gibt heute viele Eltern, die ihre Kinder nicht mehr in ein Internat schicken wollen, weil ihr Kind das angeblich nicht ertragen könnte. Es gibt 14-Jährige, die man wegen Liebeskummer zum Psychiater schickt. Hinter all dem steckt die Angst vor einem Suizid.


Und diese beschützten Kinder ­werden gewalttätig?


Das Hauptproblem ist nicht mehr die Gewalt der Eltern gegen die Kinder, sondern die Gewalt der Kinder gegen die Eltern. Ich hatte viele Fälle von Vätern, die zu Unrecht der Gewalt gegen ihre Kinder beschuldigt wurden. Ich sage nicht, dass es keine Gewalt gegen Kinder mehr gibt. Aber es gibt viel mehr misshandelte ­Eltern als misshandelte Kinder.

Können Sie das präzisieren?

Ein Beispiel: Während einer 45-minütigen Konsultation mit einem Elternpaar hat der Sohn sieben bis neun Mal die ­Eltern angerufen. Sie haben jedes Mal geantwortet und gesagt, ein Psychologe habe ihnen das empfohlen. Viele Eltern wagen es nicht mehr, Grenzen zu setzen. Ich wurde angegriffen, weil ich in einem Blog der Coop-Zeitung einer Magersüchtigen geschrieben habe: «Iss endlich!» Ich wollte damit bloss gegen das Tabu protestieren, so etwas überhaupt sagen zu dürfen. Ich bin überzeugt, dass Anorexie zunimmt, weil es solche Tabus gibt. In der gesamten Literatur über Anorexie gibt es niemanden, der sagt, dass eine der Ursachen der Anorexie darin liegt, dass man die Kinder nicht mehr zwingt, ihren Teller auszuessen.

Mit mehr Autorität wird alles besser?

Nein, so einfach ist es nicht. Die schärfsten Reaktionen auf das Anorexie-Diktum kamen von Eltern anorektischer Kinder. Einem Kollegen sagte ich, er müsse nicht mit mir schimpfen, wenn seine Tochter nicht mehr esse, sondern mit seiner Tochter. Aber einer Magersüchtigen zu sagen, sie solle ihren Teller ausessen, gilt heute als Sakrileg. Ein anderes Beispiel: Ich habe einmal im Blog geschrieben, dass Suizidversuch bestraft werden sollte. Hunderte von Internet-Nutzern haben daraufhin eine Petition unterschrieben, um mir den Mund zu verbieten. Viele Menschen würden sich aber nicht umbringen, wenn man Suizid­versuche bestrafen würde. Wir leben in einer Gesellschaft voller Verbote, was die Art und Weise betrifft, wie wir mit unseren Kindern und sogar mit uns selber umgehen: «Treib es nicht zu weit mit dem Sport.» – «Sei nett zu dir selber.» Wenn Kinder heute Probleme machen, hat das damit zu tun, dass Eltern ihre Autorität nicht mehr zeigen dürfen.

Sie mussten als Kind ausessen?

Wenn ich meinen Teller nicht zu Ende essen wollte, gab es einfach nichts anderes zu essen, bis der Teller leer war.

Weil wir das auch mussten, sagen wir unseren Kindern das Gegenteil.

Es gibt heute eben keinen Respekt mehr vor dem Essen. Man spricht nur noch über gutes oder schlechtes Essen. Es ist kein Zufall, dass bei vielen Initiations­riten ein widerliches Gebräu getrunken werden muss. Es geht dabei darum, die schlechten Seiten des Lebens zu akzeptieren. Aber man lässt die Leute nicht mehr leiden. Sobald es einen Schmerz gibt, muss er wegtherapiert werden. Wir unterliegen der Illusion, wir könnten – geschützt durch Therapien – schmerzfrei durch das Leben gehen.

Ihr Idealbild vom Vater bedeutet, dass die Frau wieder zu Hause bleibt.

Sie argumentieren stets auf praktischer Ebene, ich argumentiere auf psychologischer Ebene. Mich stört, dass behauptet wird, dass das Kind sich besser mit dem Vater identifizieren könne, wenn dieser zu Hause ist. Es ist nicht gesund, dass ein Vater sich so klein macht wie sein Kind. Das Kind muss so gross wie sein Vater werden wollen. In den Initiationsriten entreisst der Vater das Kind den Armen seiner Mutter, um es mit dem Leben zu konfrontieren. Kennen Sie die Geschichte, die James Hilmann in seinem Essay über den Verrat erzählt? Der Vater sagt dem Kind, es soll eine Leiter hochsteigen und ihm in die Arme springen. Das Kind tut, wie ihm geheissen. Der Vater sagt, es soll höher steigen. Das Kind macht es und springt. Beim dritten Mal lässt der Vater sein Kind zu Boden stürzen. Verstehen Sie die Botschaft?

Das Kind wird beim dritten Mal verraten. Wozu soll das gut sein?

Der Vater lehrt das Kind: Vertraue niemandem – ausser dir selber.

«Sobald es einen Schmerz gibt, wollen wir ihn wegtherapieren.»Alain Valterio

Die Verwischung der Geschlechterunterschiede hat Ihrer Meinung nach auch verheerende ­Auswirkungen auf die Sexualität.

Das ist einer der Hauptgründe für die heutige sexuelle Lustlosigkeit. Es geht nicht um Impotenz oder Frigidität, sondern darum, dass die Partner in einer Paarbeziehung keine Lust auf Sex mehr haben. Der Mann, der sich in der Erziehung den Wünschen der Frau anpasst, ist nicht mehr begehrenswert.

Steckt hinter der Nivellierung der Geschlechterunterschiede die Angst vor der Sexualität?

Die neue Form der Angst vor der Geschlechterdifferenz ist ihre Negation. Wir sind alle gleich. Das ist eine Form von «­Alterophobie». Man negiert, dass der andere anders ist. Aber für ein Kind ist eine Frau eine Frau, ein Mann ein Mann.

Sind die hohen Scheidungsraten ein Drama für die Kinder?

Das Kind kann mit der Brutalität einer Scheidung sehr gut umgehen. Aber es kann kaum mit dem grossen Freiraum umgehen, der in der Regel mit einer Scheidung verbunden ist. Häufig sind es ja die Frauen, die eine Scheidung wollen. Sie fühlen sich schuldig und wollen diese Schuld mit grösserer Zuwendung zum Kind kompensieren. Gleichzeitig können zwei von drei geschiedenen Männern ihre Kinder nicht mehr sehen, weil die Mütter es ihnen nicht mehr erlauben und sie ihre Ex-Männer gegenüber dem Kind schlechtreden. Den Männern wiederum wird in solchen Situationen häufig vorgeworfen, während der Ehe nichts mit den Kindern unternommen zu haben. Der Vater ist aber kein Copain und kein Animateur im Club ­Méditerranée. Er darf nicht zum Schosshündchen der Mutter werden.

Wie meinen Sie das?

Die heutigen Väter, die alles tun und verstehen, lassen beim Kind einen Verlierer­instinkt entstehen. Wenn so jemand später einen Chef hat, der ihn schikaniert, was wird er tun? Er wird ihn nicht bekämpfen, sondern ein Burn-out entwickeln. Wer seinen Vater oder seinen Lehrer zeitweise am liebsten umbringen möchte, der hat einen Grund, stark zu werden – damit er dazu in der Lage wäre. Es hat noch niemandem geschadet, eine gesunde Lust zu entwickeln, jenen zu töten, der ihm das Leben schwermacht – statt sich selber töten zu wollen.

Sie schreiben, ein Kind müsse sich die Liebe seiner Eltern verdienen. Es startet also mit einem Defizit.

Ich meine, dass das Kind Angst haben soll, die Liebe seiner Eltern zu verlieren.

Das klingt nicht wirklich besser.

Vor zwanzig Jahren war ich ja auch noch gegenteiliger Meinung. Heute finde ich aber, dass einem Kind klargemacht werden muss, dass es der Liebe der Eltern verlustig gehen könnte, wenn es sich andauernd schlecht verhält.

Was spricht denn gegen ­bedingungslose Elternliebe?

Heute wird oft Verständnis für die Respektlosigkeit von Kindern gegenüber ihren Eltern gezeigt, weil die Kinder ja nicht gefragt worden seien, ob sie auf die Welt kommen wollen. Ich finde aber, die Kinder haben den Eltern Respekt zu zollen, weil diese ihnen das Leben geschenkt haben. Es ist wichtig, dass ein Kind seinen Eltern Respekt zollt.

Die Angst um die Liebe der Eltern kann kaum eine positive Kraft sein.

Sie zeigen die Symptome der «Psyrose»! Ein Kind muss auch Angst haben und lernen, damit umzugehen. Als ich ein kleiner Knabe war, wurde uns versprochen, dass der Samichlaus mit Schmutzli komme. Wir hatten schreckliche Angst vor Schmutzli. Er ist aber nicht gekommen. Wir waren total enttäuscht. Wenn man uns aber vorher gefragt hätte, ob wir auch Schmutzli sehen wollten, hätten wir sicher Nein gesagt. Unsere Enttäuschung rührte daher, dass man es uns verboten hatte, uns mit unserer Angst zu konfrontieren.

(Der Bund)

(Erstellt: 13.06.2015, 08:31 Uhr)

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