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«Die gemeinsame Wohnung ist die erste Weichenstellung»

Viele Paare wollen nicht mehr zusammenziehen. Bedenklich, findet der Psychologe Guy Bodenmann.

Nähe und Distanz ausbalancieren: Manchmal schwierig (Szene aus dem Film «3 Zimmer/Küche/Bad»). Foto: dpa

Nähe und Distanz ausbalancieren: Manchmal schwierig (Szene aus dem Film «3 Zimmer/Küche/Bad»). Foto: dpa

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  • «Beziehungen sind heute wie ein Hühnerstall»

Guy Bodenmann ist ein Experte auf dem Gebiet der Paar­forschung. Seit 2008 ist er Professor für klinische Psychologie an der Uni Zürich. 1994 gründete er das Partnerschafts­programm Paarlife, das Paaren bei der Stressbewältigung hilft. Mittels Studien am Lehrstuhl für Psychologie wird es ständig auf Wirksamkeit überprüft und weiterentwickelt (www.paarlife.ch). In seinem Buch «Was Paare stark macht» (Beobachter-Verlag 2013) lüftet Bodenmann das Geheimnis glücklicher Beziehungen. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. (uh)

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Stimmt der Eindruck, dass immer mehr junge Paare den Schritt des Zusammenlebens nicht mehr wagen?
Viele tun sich schwer damit. Gerade heute Morgen habe ich im Zug etwas Interessantes gesehen, das mir paradigmatisch scheint für unsere Zeit: In einem Zeitungsartikel ging es um Untreue, und die Frau sagte dort sinngemäss, sie habe nicht gesündigt, sondern genossen. Auf der einen Seite haben wir den Anspruch auf Freiheit – ich will spüren, was mir guttut – , auf der andern Seite wünscht man sich trotzdem Geborgenheit und Zuneigung. Die beiden Pole sind antagonistisch. Sie können nicht beides haben, sondern müssen Kompromisse eingehen. Zusammenleben fordert viele Kompromisse.

Kompromisse sind heute nicht gerade populär. Man fühlt sich als Single wohl und möchte auch später unabhängig bleiben. Was ist daran auszusetzen?
Partnerschaft bedeutet immer ein Stück Abhängigkeit. Eine zu starke Fokussierung auf eigene Bedürfnisse birgt die Gefahr, dass man die Bedürfnisse des andern zu wenig wahrnimmt. Sobald man mit anderen Menschen zusammen in einem intimen Setting lebt, muss man den Blick für die anderen haben, für den Partner, die Kinder. Wenn man dazu nicht bereit ist, wird eine Zweierbeziehung schwierig.

Eine gemeinsame Wohnung kann dazu verleiten, dass kindliche Versorgungswünsche belebt werden. Das Apart-Together-Modell, etwa eine Wochenendbeziehung, stimuliert eher den Erwachsenen in uns. Begegnet man sich so nicht stärker auf Augenhöhe?
Ganz gleich, ob Sie getrennt oder zusammen leben – es geht bei einer guten Beziehung immer um ein paritätisches Geben und Nehmen, um Versorgen und Versorgtwerden. Beide Erfahrungen möchten gemacht werden. Nur Nehmen befriedigt letztlich nicht.

Ganz konkret: Er zieht zu ihr, weil sie die grössere Wohnung hat. Was kann man vorkehren, damit nicht einer von beiden gleich wieder auszieht?
Sie hat das Territorium schon besetzt, insofern ist die Ausgangslage schwieriger, als wenn beide in eine neue Wohnung ziehen, was gleich lange Spiesse bedeutet. Der Zuziehende hat einen schweren Stand, denn die Wohnung war ja nicht halb leer, sondern voll eingerichtet. Das wieder auf den Kopf zu stellen, ist der erste Test in der Frage des Gebens und Nehmens. In diesem Fall muss sie grosszügig sein – auf der andern Seite muss er seinen Teil für sich reklamieren. Was ist ihr Anspruch, was ist sein Anspruch? Gelingt es einem Paar, das auszutarieren? An dieser Frage entzündet sich letztlich das ganze spätere gemeinsame Leben des Paares.

Wie meinen Sie das?
Es wird immer um diese Fragen gehen: Will man ein Kind oder zwei? Wie erzieht man die Kinder? Wohin fährt man in die Ferien? Wofür wird das Geld ausgegeben? Das Zusammenziehen ist da nicht speziell relevant, aber es ist eine erste Weichenstellung.

Helfen klare Regeln? Etwa die paritätische finanzielle Beteiligung gemäss Einkommen bei Ausgang, Ferien und grossen Anschaffungen?
Es gibt bei klaren Regeln weniger Reibungspunkte. Doch das Monetäre oder die Gütertrennung allein ist nicht massgebend. Paare tauschen viel mehr aus – Zeit, Energie, Liebe. Alles muss in die Waagschalen. Die Gesamtheit der Ressourcen und ihre Verteilung sollten in der Bilanz stimmig sein.

Sollte man innerhalb der Wohnung auf einem eigenen Territorium bestehen? Separate Zonen schaffen?
Wenn es möglich ist – sehr schön. Aber die meisten jungen Paare können sich keine so grosse Wohnung leisten. Man kann auch auf kleinem Raum seine Intimsphäre pflegen, etwa indem man mit dem Kopfhörer Musik hört und signalisiert: Jetzt brauche ich einen Moment für mich.

In einer gemeinsamen Wohnung muss man nicht nur das Zusammenleben lernen, sondern auch den Abstand.
Die Balance von Nähe und Distanz ist die zentrale Herausforderung. Frauen suchen in der Regel mehr Nähe, Männer eher Distanz. Beide Bedürfnisse sind legitim, aber inkompatibel.

Was tun?
Sich gemeinsam gegen die Unterschiedlichkeit verbünden.

Tönt gut, aber wer gibt nach?
Beide ein Stück weit. Abstriche machen ist vielleicht nicht populär, aber leider die Voraussetzung, dass eine Partnerschaft gelingt. Man muss nicht bei jedem Thema auf einen gemeinsamen Nenner kommen, aber in der Gesamtheit muss es letztlich für beide fair sein.

Wenn man zu viele Kompromisse macht, verliert das Zusammenleben aber an Spannung, man schleift sich gegenseitig ab. Die Frau einmal im Monat zum Essen ausführen, machts auch nicht besser.
Man muss die Beziehung pflegen, wässern und düngen wie ein Pflanze. Wie die Forschung zeigt, wiegen fünf positive Gesten eine negative auf. Man muss dem Partner zeigen, dass einem etwas an ihm liegt. Aber es ist klar: Es gibt die Erosion des Verstärkereffekts. Auch die schönste Person wird irgendwann «normal». Vielleicht wird dann sogar jemand, der weniger attraktiv ist, interessant durch die Neuigkeit. Prozentual streiten Paare eigentlich die wenigste Zeit. Die zentrale Frage ist: Wie aufmerksam gehen wir im Alltag miteinander um? Wie können Paare die sogenannt neutralen Interaktionen – zusammen essen, den Haushalt erledigen, zusammen einkaufen – positiv gestalten.

Wie denn?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ein frisch verliebtes Paar sitzt am See, sie fröstelt. Ganz selbstverständlich wird er ihr seine Jacke um die Schultern legen. Nach zehn Jahren wird er sagen: Warum hast du deine Jacke nicht mitgenommen? Du wusstest doch, dass es kalt wird! Wenn man solches reflektiert, ist schon viel gewonnen. Man muss Zuneigung zeigen, sollte versuchen, nett, zuvorkommend und galant zum Partner zu bleiben. Ich pendle beruflich viel mit dem Zug und sehe viele Paare, wie sie sich verabschieden. Einige schauen sich dabei kaum an, andere geben sich einen Kuss, fragen, wann der andere heimkommt, winken vielleicht. Das ist es, worauf es ankommt. Eine positive Atmosphäre im Alltag schaffen. Das wirkt sich auch auf die Sexualität aus.

Halten getrennte Schlafzimmer den Sex lebendig?
Egal, in welchem Zimmer Sie sind – es ist ja immer noch derselbe Partner. Getrennte Schlafzimmer schaffen nicht mehr erotische Spannung. Verziehen sich beide in ihr Schlafzimmer, findet gar nichts statt. Wenn es hingegen dem anderen mal nicht danach ist und man zusammenliegt, ergibt sich vielleicht ein Gespräch über die mangelnde Lust, weil man Sorgen hat. So entsteht Nähe, die bei getrennten Zimmern nicht spielt. Das Zeigen von Zuneigung, die Sorge für den anderen ist es letztlich, was auch die Sexualität lebendig hält.

Wie wichtig ist häufiger Sex für eine Beziehung?
Das kommt auf das Paar an, doch insgesamt wichtig. Man sollte der Sexualität Raum geben. Sex ist wie ein Muskel. Wenn er nicht gebraucht wird, bildet er sich zurück oder verkümmert. Erotik braucht aber auch Variation.

Stellungswechsel, Sprachspiele, Reizwäsche? Vielen Paaren ist das peinlich. Man kennt sich gut und plötzlich fängt der eine an, merkwürdige Dinge zu sagen.
Das sind mehr Äusserlichkeiten. Es geht darum, ein latent erotisches Spannungsfeld aufzubauen, und das entsteht nicht erst im Schlafzimmer. Häufig braucht es zuerst einen guten Moment, ein Gespräch – man muss herunterkommen, sich verstanden fühlen, spüren, dass der andere an einem interessiert ist.

Geht es nicht im Grunde einer Beziehung immer um Rivalität und Machtverteilung, ganz gleich, ob man getrennt oder gemeinsam lebt?
Ein interessanter Punkt. Wir wissen aus der Forschung sehr viel darüber, wie sich Paare bei Stress unterstützen können, wenig hingegen, wie sie sich gemeinsam freuen können. Wie geht man damit um, wenn der eine sagt: Ich hatte heute einen wunderbaren Tag! Und der andere hatte einen schlechten Tag. Gelingt es dem einen, sich mit dem andern zu freuen? Die Unfähigkeit der geteilten Freude, im Gegensatz zum geteilten Leid, ist häufig bezeichnender für Partnerschaftsprobleme.

Sollte man es im Alter noch wagen zusammenzuziehen? Oder gibt es ein Desaster, weil die Flexibilität fehlt?
Grosszügige und flexible Menschen haben es immer leichter im Leben – aber es ist auch eine Frage der Motivation. Wenn man sieht: Da kommt noch einmal etwas ganz Wertvolles in mein Leben, dann ist man auch bereit, sich noch mal ein Stück weit anzupassen und zu verändern.

(Tagesanzeiger.ch/Newsnet)

Erstellt: 16.12.2013, 07:44 Uhr


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