Von einer Revolution in der Biologie ist die Rede, von einer Technologie, die völlig neue Türen für die Forschung und die Medizin öffnet. Crispr/Cas9, kurz Crispr, heisst das heiss gehandelte gentechnische Werkzeug, das erst vor drei Jahren sein Debüt machte und seither Labors auf der ganzen Welt im Sturm erobert hat. In aller Munde ist die Technik seit Ende April, als chinesische Forscher bekannt gegeben hatten, sie hätten mit Crispr erstmals menschliche Embryonen genetisch verändert – ein Tabubruch, vor dem selbst die Wissenschaftsmagazine «Science» und «Nature» kürzlich gewarnt hatten.
Den durchschlagenden Erfolg verdankt Crispr einerseits einer hohen Präzision, andererseits aber auch der Tatsache, dass das Werkzeug in der Anwendung viel einfacher ist, als dies sein unaussprechlicher Name erahnen lässt. «Es ist schon fast erschreckend, wie simpel die Technologie ist», sagt Adriano Aguzzi, Prionenforscher an der Universität Zürich.
«Crispr ist ein äusserst leistungsstarkes Werkzeug, um Gene gezielt zu verändern», sagt Martin Jinek vom Biochemischen Institut der Universität Zürich. Der junge Assistenzprofessor mit tschechischem Pass ist der eigentliche «Werkzeugmacher»; er hat von 2007 bis 2012, damals noch als Postdoc an der University of California in Berkeley (UCB), die Grundlagen für die neue Technologie gelegt. Im Labor von Jennifer Doudna untersuchte er als Erster die Funktion des bakteriellen Eiweisses Cas9 und erkannte dessen Potenzial. Jinek war auch Erstautor jenes Aufsatzes im Fachblatt «Science», der im August 2012 den Crispr-Hype so richtig lostrat.
«Was Jinek gemacht hat, ist absolut fundamental», sagt Aguzzi. «Dafür gibt es noch einen Nobelpreis.» Dass er an die Uni Zürich gelockt werden konnte, «ist ein unglaublicher Fang für uns», findet Aguzzi, der selber auch mit der Crispr-Technologie arbeitet.
Erbkrankheiten heilen
Wie keine andere Technologie zuvor vereinfacht die Crispr-Technologie das sogenannte Genome Editing. Damit beschreiben Forscher Methoden, die es erlauben, das Erbgut präzise zu korrigieren, so wie man mit Word oder einem anderen Büroprogramm einzelne Buchstaben, Wörter oder ganze Sätze in einem Text verbessern kann. So können Forscher mit Crispr einerseits gezielt defekte Genabschnitte durch gesunde ersetzen oder andererseits ebenso gezielt Gene funktionsunfähig machen.
Vor allem in der Grundlagen- und in der angewandten Forschung hat das neue Tool wie eine Bombe eingeschlagen. Plötzlich sind Experimente möglich, von denen man vor ein paar Jahren höchstens geträumt hat. «Theoretisch setzt nur die Fantasie Grenzen», sagt Aguzzi.
Man könne mit Crispr zum Beispiel ganz einfach Modelle für menschliche Krankheiten generieren, sagt Jinek, indem man gezielt und präzise etwa in menschlichen Stammzellen oder Versuchstieren die betroffenen Gene ausschalte. Damit könne man nicht nur verschiedenste Krankheiten studieren, sondern gleich auch mögliche Medikamente gegen die Leiden testen.
Die Aufregung um Crispr wäre aber nicht so gross, wenn das Tool nur für die Grundlagenforschung interessant wäre. Doch es geht weit darüber hinaus: In allen Gebieten der modernen Biomedizin und Pflanzenbiotechnologie wird das Werkzeug massive Fortschritte bringen, vor allem auch in der Medizin. Das Genome Editing könnte zum Beispiel der Gentherapie nach Jahren mit kleinen Fortschritten und grossen Rückschlägen endlich zum Durchbruch verhelfen.
Start-ups stehen bereits in den Startlöchern
Im Visier haben die Forscher laut Jinek vorerst vor allem Krankheiten, die auf einen genetischen Defekt zurückzuführen sind. Dazu zählen verschiedene Formen der Bluterkrankheit, angeborene Immundefekte oder auch Aids. Bei letzterer Krankheit weiss man, dass Menschen mit einer seltenen Mutation des Zelloberflächeneiweisses CCR5 resistent sind gegen eine Infektion mit dem HI-Virus. Dies wollen Forscher ausnützen, indem sie Blutstammzellen von Menschen ohne diese Resistenz mit Genome Editing korrigieren und so gezielt HIV-resistent machen. Die Idee: die Zellen ausserhalb des Körpers behandeln und die korrigierten Versionen dann in die Blutbahn zurückspritzen.
Noch sind keine klinischen Studien am Laufen, aber mehrere Start-ups und vermutlich auch Pharmafirmen stehen in den Startlöchern. Eines davon, Crispr Therapeutics, hat den offiziellen Hauptsitz in Basel, Labors und Büros in London und Cambridge (USA). Klares Ziel der Jungfirma: Therapien gegen genetisch bedingte Erkrankungen finden. An welchen man forscht, verrät CEO Rodger Novak auf Anfrage noch nicht.
Martin Jinek selber ist ebenfalls an einem Start-up beteiligt. Zusammen mit Jennifer Doudna und weiteren Mitstreitern gründete er während seiner Zeit an der UC Berkeley Caribou Biosciences. Heute ist er noch als wissenschaftlicher Berater für die Firma tätig, die selber keine Therapien entwickelt, sondern eine Technologieplattform für verschiedenste Anwendungen anbietet.
Crisps hinterlässt keine Spuren
Crispr wird auch in der Pflanzengentechnologie die Karten völlig neu mischen. Verändert man mit Crispr nämlich gezielt ein Pflanzengen, etwa ein Resistenzgen gegen einen Schädling, kann man diesen Eingriff nicht von einer natürlichen Mutation unterscheiden. Die Crispr-Genchirurgie ist so sauber, dass sie keine Spuren hinterlässt – und vor allem auch keine Fremdgene, wie dies bei den heute kommerziell genutzten gentechnisch veränderten (GVO) Nutzpflanzen der Fall ist. Das wirft ganz neue Fragen auf: Gelten mittels Crispr aufgepimpte Nutzpflanzen noch als GVO? Oder brauchen sie keine speziellen Regelungen, weil sie sich eh nicht von normalen Züchtungen unterscheiden lassen?
Das sind bei weitem nicht die einzigen brisanten Fragen, die Crispr provoziert. Denn das Gentechwerkzeug ist gerade wegen seiner einfachen Handhabe und seiner Präzision für Missbrauch geradezu prädestiniert, etwa in der Biowaffenforschung oder der Reproduktionsmedizin. «Dass man mit Crispr unglaublichen Mist anstellen kann, das ist klar», sagt Aguzzi. Die Publikation der chinesischen Experimente mit menschlichen Embryonen überraschte den Neuropathologen daher überhaupt nicht. Er relativiert aber: «In der Schweiz wird so was nicht passieren, nur dort, wo nichts reguliert ist.»
Mit Preisen bereits hoch dotiert
Auch Martin Jinek macht sich Sorgen wegen der voreiligen Versuche an den menschlichen Embryonen. «Wir verstehen die Technik noch zu wenig gut, wir kennen noch nicht alle Risiken.» Er befürwortet daher die Idee einer Konferenz, an der sich die Forscherzunft eigene Regeln für die Arbeit mit Crispr auferlegen soll. Als Vorbild soll dabei die Asilomar-Konferenz von anno 1975 dienen. Damals versammelte sich die Elite der Genforscher auf der Halbinsel von Monterey in Kalifornien, um den Umgang mit der aufkommenden Gentechnologie zu regulieren. «Das wäre eine gute Idee», sagt Jinek.
Der erst 35-jährige Jinek wurde bereits mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Vor zwei Jahren, als er nach Zürich kam, erhielt er einen der begehrten, mit 1,5 Millionen Euro dotierten Forschungsbeiträge des Europäischen Forschungsrats (ERC Starting Grant). Letztes Jahr kam der John Kendrew Award des Europäischen Molekularbiologielabors (EMBL) dazu, und vor wenigen Wochen erst der mit 20'000 Franken dotierte Friedrich-Miescher-Preis, der als höchste hiesige Auszeichnung für Nachwuchsforschende auf dem Gebiet der Biochemie gilt.
Ob es für Jinek selber dereinst auch zum Nobelpreis reichen wird (der für die Entdeckung der Crispr-Technologie wohl schon bald verliehen wird), ist unklar. Normalerweise heimsen die Professoren, in deren Labor eine Entdeckung gemacht wird, alle Lorbeeren ein. In seinem Fall wären das Jennifer Doudna in Berkeley und Emmanuelle Charpentier vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, deren Arbeitsgruppe mit Doudnas Labor zusammenarbeitete. «So funktioniert das halt in der Wissenschaft», sagt Jinek.
Wie es mit Jineks Karriere – mit oder ohne Nobelpreis – weitergeht, ist offen. Studiert hat er in Cambridge (UK), doktoriert am Europäischen Molekularbiologielabor in Heidelberg, dann zog es ihn für das Postdoc nach Berkeley und von dort nach Zürich, wo er weiter am Crispr/Cas9-System forscht. Das akademische Nomadentum finde er wichtig, hat er einmal gesagt, doch für den Moment geniesst Jinek das Umfeld in Zürich. «Ich habe fantastische Kollegen, die Ressourcen hier sind exzellent, dazu kommt ein gutes Netzwerk. Ich bin hier höchst zufrieden.» (Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 14.05.2015, 17:40 Uhr)