War es die Chemiefabrik in der Nähe? Verschmutztes Wasser? Die Impfung gegen Röteln? Oder hat es mit streunenden Hunden zu tun, wie in den sozialen Netzwerken zu lesen war? Die verschiedensten Gerüchte kamen auf, nachdem im Nordosten Brasiliens immer mehr Babys mit Fehlbildungen geboren worden waren. Die Stirn flach, die Köpfchen kaum grösser als eine Orange, manchmal sass die Haut wie eine zu grosse Mütze darauf. Ärzte mussten Frauen im Wochenbett offenbaren, dass höchstwahrscheinlich auch die Gehirne ihrer Töchter und Söhne unterentwickelt seien. Langfristig könnten Koordinationsstörungen, Krampfanfälle, geistige Einschränkungen, wenn nicht starke Behinderungen drohen.
Mikrozephalie heisst die Entwicklungsstörung. Dass sie sich häufte, fiel brasilianischen Ärzten erst im Oktober 2015 auf. Einen Monat später legten die Behörden des Bundesstaates Pernambuco erste Zahlen vor: 141 Mikrozephalie-Babys hatten sie erfasst, normal sind 10 Fälle pro Jahr in dieser Region. Niemand hatte eine solche Häufung bisher gesehen. «So muss es in Europa während der Pest gewesen sein», beschreibt Laura Rodrigues die Stimmung in ihrer Heimat. Rodrigues ist Epidemiologin an der London School of Hygiene and Tropical Medicine und wurde nach Brasilien gerufen, um bei der Untersuchung der Mikrozephalie-Fälle zu helfen.
Nur Juckreiz und Ausschlag
Wissenschaftler vermuteten bald, die Entwicklung könnte im Zusammenhang mit einem anderen Novum im Land stehen: Im Mai war erstmals das Zika-Virus aufgetaucht. Seither verdichtet sich der Verdacht, dass dieser Erreger die Fehlbildungen auslöst. Am vergangenen Freitag veröffentlichte die US-amerikanische Seuchenschutzbehörde vorläufige Untersuchungsergebnisse der ersten 35 brasilianischen Babys, die seit dem Zika-Ausbruch mit Mikrozephalie auf die Welt gekommen sind. Alle Mütter der betroffenen Kinder hatten sich während der Schwangerschaft in einem Zika-Gebiet aufgehalten. Drei Viertel der Frauen erinnerten sich an Symptome einer möglichen Zika-Infektion während dieser Zeit. In Proben vom Hirnwasser der Babys wurden viele anderer Erreger ausgeschlossen. Die Tests auf das Virus dauern noch an. Andere Wissenschaftler haben in bislang in 14 Fällen den Zika-Erreger im Fruchtwasser, der Plazenta oder in Gewebeproben betroffener Kinder nachgewiesen. «Ein Zusammenhang zwischen dem Virus und der Häufung von Mikrozephalie-Fällen ist sehr wahrscheinlich», sagt der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin.
Das durch Mücken übertragene Virus erschien bislang zwar lästig zu sein, aber kaum gefährlich. Etwa 80 Prozent der Infizierten spüren keine Symptome, die anderen leiden einige Tage lang an Hautausschlag, Juckreiz, Bindehautentzündungen, manchmal auch Fieber. Als das Fachmagazin «Nature» im vergangenen November eine Einschätzung der wichtigsten Erreger, die das Nervensystem schädigen können, vorlegte, stand Zika nicht auf der Liste. Warum sich diese schweren Effekte erst jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Entdeckung des Erregers zeigen, wirft die Frage auf, ob er vielleicht gefährlicher geworden ist. Dafür gibt es bislang jedoch keinen Hinweis. In dem riesigen Land Brasilien hat das Virus allerdings erstmals die Möglichkeit, so viele Menschen zu befallen, dass auch seltenere Komplikationen einer Infektion deutlich sichtbar werden. Auf bis zu 1,3 Millionen wird die Zahl der Infizierten in Brasilien bislang geschätzt.
Unbemerkter Ausbruch in Französisch-Polynesien
Die zwei vorangegangenen Zika-Ausbrüche, die wissenschaftlich dokumentiert wurden, erreichten nicht annähernd dieses Ausmass. 2007 zog der Erreger über die Yap-Inseln im Pazifik. Nachdem er schnell den Grossteil der nicht einmal 7000 Einwohner infiziert hatte, gingen ihm die Opfer aus. Ein Ausbruch in den Jahren 2013 bis 2014 in Französisch-Polynesien verlief folgenreicher, nur wurde die Gefahr damals nicht bemerkt. Erst nachdem die Fehlbildungen in Brasilien bekannt geworden waren, blickten Wissenschaftler noch einmal genau in die Geburtenregister. Während sie in anderen Jahren durchschnittlich einen Fall von Mikrozephalie in der südpazifischen Region fanden, zählten sie für die Zeit der Zika-Infektionen 17 Fehlbildungen. Brasilien erlebt als erstes Land der Welt die volle Macht des Erregers, gegen den es weder Medikament noch Impfstoff gibt. 3900Kinder mit Verdacht auf eine Mikrozephalie wurden bislang landesweit registriert. Zuvor gab es durchschnittlich nur 163Fälle pro Jahr.
Dass Epidemiologen teilweise im Dunkeln tappen, liegt auch an der bislang unzureichenden Diagnostik. «Das Virus kann lediglich während der akuten Infektion direkt nachgewiesen werden. Antikörper, die der Mensch als Reaktion auf die Ansteckung bildet, lassen sich nur schwer nachweisen, da die entsprechenden Tests auch auf verwandte Erreger wie Dengue- und Gelbfiebervirus reagieren», erklärt Schmidt-Chanasit. Wegen dieses Mangels erfahren Frauen auch nicht, ob ihnen keine Gefahr droht und sie relativ unbesorgt Kinder bekommen können. «Das Zika-Virus hinterlässt höchstwahrscheinlich eine lang anhaltende Immunität», sagt der Virologe Schmidt-Chanasit. Wären serologische Tests überall im Land jederzeit verfügbar, könnte man jenen Frauen Entwarnung geben, die bereits eine Infektion durchgemacht haben.
Schwangerschaft verschieben
Doch bislang hören Frauen in Brasilien eher den Rat, Schwangerschaften aufzuschieben. El Salvador empfiehlt sogar, bis 2018 zu warten. Dieser Rat könnte in einer Region, in der Abtreibungen verboten sind, gefährliche Folgen haben. Der Gesundheitsorganisation WHO zufolge unterziehen sich in Südamerika jährlich fast 300'000 Frauen einem illegalen und unsicheren Schwangerschaftsabbruch. 700 von ihnen überleben den Eingriff nicht. Die Zahlen könnten zunehmen, denn längst grassiert die Angst vor dem Zika-Virus in fast ganz Lateinamerika. Doch nirgends ist der Ausbruch bislang so heftig wie in Brasilien.
Während der Erreger sich im südamerikanischen Raum weiter ausbreitet, haben Reisende das Virus bereits auch in europäische Länder eingeschleppt. Übertragung durch einfachen Kontakt mit einem Infizierten wurde noch nicht beobachtet. Fallberichte legen jedoch nahe, dass der Erreger durch Bluttransfusionen und unter Umständen auch durch Geschlechtsverkehr übertragen werden kann. (Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 27.01.2016, 08:42 Uhr)