Das Ende der Gewalt
Der kanadische Evolutionspsychologe Steven Pinker behauptet in seinem Buch "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit": Die Gewalt in der Welt ist rückläufig.
taz: Mr Pinker, in Ihrem Buch "Gewalt" vertreten Sie die These, dass die Gewalt unter den Menschen über die Jahrhunderte insgesamt zurückgegangen ist. Wie friedlich ist die Welt von heute im Vergleich zu früher?
Steven Pinker: Die Mordrate ist auf der Welt heute viel geringer als im Mittelalter. In Europa lag sie im Mittelalter bei ungefähr 30 Morden auf 100.000 pro Jahr. Heute beträgt sie in den meisten westeuropäischen Ländern 1 auf 100.000 pro Jahr, was einem Rückgang um einen Faktor von etwa 30 entspricht, während der Weltdurchschnitt bei etwa 7 liegt. Auf der ganzen Welt geht es uns also im Durchschnitt besser als unseren Vorfahren.
Woran machen Sie das noch fest?
STEVEN PINKER 1954 geboren in Montreal, ist seit 2003 Professor für Psychologie an der Harvard University. Seine Forschungen beschäftigen sich mit Denken und Sprache, er schrieb mehrere Weltbestseller, u. a. "Wie das Denken im Kopf entsteht" (1999). Er schreibt regelmäßig für die New York Times, Time und The New Republic. Foto: Rebecca Goldstein
Die Zahlen der Kriegstoten sind heute auf ihrem tiefsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Todesraten machen nur noch einen Bruchteil dessen aus, was sie in den frühen Fünfzigern, den Sechzigern oder den Siebzigern während des Vietnamkriegs betrugen.
Viele gewaltsame Einrichtungen, die jahrtausendelang zur Gesellschaft gehörten, gibt es nicht mehr, zum Beispiel Tod durch Folterung oder die Hinrichtung für Verbrechen ohne Opfer wie Blasphemie, üble Nachrede oder Ketzerei. Sklaverei ist heute auf der ganzen Welt illegal, früher war sie überall erlaubt. Und es gibt immer mehr Kategorien von Gewalt, gegen die angegangen wird.
Gerade erschien im Fischer Verlag, Frankfurt am Main, Steven Pinkers Buch "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" (1.216 Seiten, 26 Euro). Es will nicht weniger sein als eine Gesamtgeschichte unserer Zivilisation, dafür stellt Pinker die Entwicklung der Gewalt von der Urzeit bis heute in den Mittelpunkt. Pinker kommt zu dem Ergebnis, dass die Menschheit dazulernt und dass Gewalt im Spektrum menschlichen Handelns immer weniger eine reale Option darstellt. Dafür sorgen der Staat durch sein Gewaltmonopol und die Androhung von Gewalt, aber auch die gesellschaftliche Selbstzivilisierung im Sinne des Soziologen Norbert Elias.
Als da wären?
Häusliche Gewalt - die während der letzten 40 Jahre zurückgegangen ist -, die Prügelstrafe für Kinder - die im Westen rückläufig ist -, Hassverbrechen gegen Homosexuelle, sogar das Tyrannisieren von Kindern auf dem Spielplatz, was vermutlich die jüngste Gewaltkategorie ist, die man jetzt bekämpft. Auf verschiedensten Ebenen - von Krieg über Mord bis zum Verhauen von Kindern - hat es Fortschritte gegeben, die zu weniger Gewalt geführt haben.
Was sind die Hauptursachen für diese Entwicklung?
Der Rückgang an Morden lässt sich dem Erstarken von Staaten und Regierungen zuschreiben. Wenn es ein Justizsystem und eine Polizei mit Gewaltmonopol gibt, können sie durch Bestrafung abschrecken.
Das bedeutet umgekehrt, dass Leute, wenn sie wissen, dass ihre potenziellen Angreifer - und nicht bloß sie selbst - abgeschreckt sind, keinen Präventivschlag zu planen brauchen, um sie zu "beseitigen", bevor die anderen sie "beseitigen". Sie brauchen keine kriegerische Abwehrhaltung mehr und müssen an niemandem mehr Rache nehmen, weil der Staat es für sie tut. Das Erstarken der Regierungen war der Haupteinfluss, durch den die individuelle Gewalt eingehegt wurde.
Welche Rolle hat die Kultur dabei gespielt?
Die Abschaffung von institutioneller Grausamkeit und Gewalt wurde durch die Ideen im Zeitalter der Aufklärung vorangetrieben. Als die Menschen gebildeter wurden, hörten sie auf, abergläubisch zu sein und an Dinge wie Hexerei zu glauben. Sie begannen, die Perspektive anderer zu berücksichtigen, indem sie Belletristik und journalistische oder historische Texte lasen. Das machte es schwieriger, andere Leute zu dämonisieren, erhöhte das Mitleid und reduzierte Grausamkeit und Sadismus.
Und wie sieht es mit der Ökonomie aus?
Eine dritte Einflussgröße ist die Verbreitung von Wirtschaft und Handel durch Finanzinstrumente, die den Handel erleichterten, und durch technologische Innovationen, mit denen sich Waren und Ideen einfacher transferieren ließen. Ein Positivsummenspiel durch Wirtschaftskooperation hat das Nullsummenspiel aus Plünderei und Kriegen ersetzt. Es wurde billiger, Dinge zu kaufen, statt sie zu stehlen, und andere Menschen waren lebend plötzlich wertvoller als tot.
Sie haben gerade die Wirtschaft und den Handel als einen begünstigenden Faktor beim Rückgang von Gewalt erwähnt. Man könnte aber auch, wie es in der Soziologie geschieht, bestimmte Marktmechanismen oder wirtschaftliche Ausbeutung als "strukturelle Gewalt" bezeichnen. Warum spielen derlei Fragestellungen für Sie keine Rolle?
Weil diese Soziologen verwirrt sind.
Alle?
Nur weil sie verwirrt sind, heißt das nicht, dass ich es auch sein muss. Sie verwenden Gewalt als eine Metapher, um Dinge darunter zu fassen, die sie für falsch halten. Sie wollen damit die allgemeine Ablehnung von Gewalt mobilisieren, um sie gegen ökonomische Verhältnisse in Stellung zu bringen, die ihnen nicht passen. Ich halte das für unscharfe Terminologie, die zwei völlig verschiedene Phänomene zusammenwirft.
Das ist so, als wenn ich ein Krebsforscher wäre und Sie mich fragen würden, warum ich mich nur auf körperliche Formen von Krebs konzentriere und nicht auch die metaphorischen Erscheinungsformen von Krebs in der Gesellschaft wie Korruption berücksichtige. Ist das nicht auch eine Form von Krebs? Ich würde darauf antworten, dass Sie in Metaphern sprechen, und jeder, der sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit von Metaphern leiten lässt, ist verwirrt und wird keinerlei Erkenntnisfortschritt erzielen.
Wie definieren Sie denn Gewalt?
So wie im Wörterbuch: die Anwendung von körperlicher Kraft, um jemanden zu verletzen. Ich würde Mord, Vergewaltigung, Raub, Überfälle und Kidnapping darunter fassen, unabhängig davon, ob sie von Individuen verübt werden oder von Gruppen wie Milizen, Armeen oder Regierungen.
Um noch einmal auf den Rückgang bei Mord oder Kriegstoten zu sprechen zu kommen: Sie haben die Entwicklungen über mehrere Jahrhunderte hinweg anhand von Statistiken verglichen. Frühe Statistiken und Chroniken sind im Gegensatz zu heutigen Erhebungen jedoch nicht zuverlässig.
Weniger zuverlässig. Doch die historischen Kriminologen, die diese Daten zusammengetragen haben, haben eine Reihe von Überprüfungen vorgenommen, um sicherzugehen, dass sie nicht völlig danebenliegen.
Welche?
Sie haben etwa die Tatumstände eines Mords heutigen Beobachtern präsentiert und danach gefragt, ob sie dies als Unfall oder als Mord bezeichnen würden. Im Allgemeinen haben zeitgenössische Beobachter die Fälle genauso beurteilt wie die Leute damals. Man kann zudem diverse Konsistenzprüfungen vornehmen. Wenn etwa die Zahlen für verschiedene Länder dem gleichen Muster folgen, kann man zuversichtlich sein, dass man es nicht mit dem statistischen Zufallsergebnis einer einzigen Datenquelle zu tun hat.
Und wenn die Zahlen dann auch noch mit den von Historikern gegebenen Alltagsbeschreibungen jener Zeit übereinstimmen, stellt das eine weitere Form von Konsistenzprüfung dar. Wir wissen außerdem aus künstlerischen Darstellungen und zeitgenössischen Berichten, dass Gewalt im Mittelalter zum Alltagsleben dazugehörte. Der Umstand, dass die Zahlen von damals viel höher sind als heute, stimmt daher auch mit den erzählerischen Darstellungen überein.
Apropos erzählerische Darstellungen: Eine der ersten Zahlen in Ihrem Buch taucht im Zusammenhang mit der Bibel auf. Sie geben zunächst eine geraffte Fassung der Handlung des Ersten Buchs Mose bis zur Schaffung von Adam und Eva und der Geburt von Kain und Abel. Den Umstand, dass Abel von Kain ermordet wird, interpretieren Sie dann bei einer Weltbevölkerung von vier Menschen als eine Mordquote von 25 Prozent.
Das war natürlich ein Witz!
Erfüllt die Zahl noch einen weiteren Zweck? Immerhin nimmt die Darstellung nicht wenig Raum ein.
Nein. Ich glaube nicht, dass es Adam, Eva, Kain oder Abel gegeben hat. Es war ein Witz, der lediglich nahelegen sollte, wie verbreitet Gewalt in den Erzählungen über die Welt damals war, als die Geschichte aufgeschrieben wurde.
Zurück zu ihrer Buchthese: Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem Ergebnis, dass die Gewalt abgenommen hat?
Zunächst einmal sind alle Weltbilder falsch, die unterstellen, dass die Gewalt schlimmer geworden ist. Und davon gibt es eine Menge. Die Konsequenz daraus ist, dass wir versuchen sollten zu verstehen, was die Gewalt reduziert hat. Irgendetwas ist dafür verantwortlich, wir haben also irgendetwas richtig gemacht. Es scheint mir daher geboten, herauszufinden, was das ist, sodass wir die Sache in Zukunft noch verstärken können.
Im Übrigen ist jede Weltanschauung falsch, derzufolge alles, was in den vergangenen 300 Jahren geschehen ist, ein schrecklicher Fehler war - die Aufklärung, die wissenschaftliche Revolution, Demokratie und Kapitalismus. Wenn die Angriffe auf diese modernen Begriffe auf der Annahme fußen, dass wir gewalttätiger werden, dann sind sie verfehlt, sodass wir sie noch einmal überdenken und die Entwicklungen der Moderne würdigen sollten. Denn zusätzlich dazu, dass sie unser Leben länger und angenehmer machen, haben sie unser Leben auch weniger gewalttätig gemacht.