Die Belastungen am Arbeitsplatz nehmen zu: Blick in ein Frankfurter Bürofenster. Foto: dpa
Die Koalition debattiert über eine gesetzliche Regelung über Stress am Arbeitsplatz. Die Psychologie-Professorin Sandra Ohly über die Wirkung von Stress im Job und die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung. Mit Ohly sprach Markus Grabitz.
Brauchen wir ein Anti-Stress-Gesetz?
Sandra Ohly: Möglicherweise wird vieles, was im Zusammenhang mit dem Anti-Stress-Gesetz diskutiert wird, bereits vom Arbeitsschutzgesetz abgedeckt. Es verpflichtet ja den Arbeitgeber, Schwachstellen in der Arbeitsorganisation zu analysieren und Maßnahmen dagegen zu ergreifen und zu dokumentieren. Da werden explizit die psychischen Belastungen genannt. Von daher ist die Frage: In wie weit würde ein Anti-Stress-Gesetz über das bestehende Arbeitsschutzgesetz hinaus gehen? Solange diese Frage nicht geklärt ist, kann ich nicht sagen, ob ein neues Gesetz nützlich wäre.
Was könnte man sich an konkreten Empfehlungen in einem Anti-Stress-Gesetz vorstellen?
Ohly: Denkbar sind etwa Reglungen zur Erreichbarkeit von Arbeitnehmern für ihren Arbeitgeber in der Freizeit. Vor dem Hintergrund aktueller Forschungsergebnisse zur Erholung von der Arbeit halte ich derartige Regeln auch für sinnvoll. Demnach ist wichtig, dass Arbeitnehmer in der Freizeit abschalten können. Sie sollen sich nicht mehr mit dem Thema der Arbeit beschäftigen müssen. Sie sollen zum einen in der Freizeit nicht mehr aktiv arbeiten müssen, aber auch gedanklich Distanz haben. Wer ständig in Rufbereitschaft ist, kann nicht abschalten.
Ist es sinnvoll, wenn Unternehmen Dienstmails nach Dienstschluss nicht mehr versenden?
Ohly: Einerseits ist das sinnvoll. Es signalisiert, dass das Unternehmen die Grenzen respektiert und akzeptiert, dass der Mitarbeiter nicht rund um die Uhr erreichbar ist. Nur: Bei VW gilt diese Regel nur für die Tarifbeschäftigten. Die Führungskräfte aber, die ja am häufigsten in ihrer Freizeit von der Arbeit eingeholt werden, betrifft diese Regelung gar nicht. Sie werden also gar nicht geschützt.
Ist es nicht naiv zu meinen, dass Führungskräfte am Wochenende komplett unerreichbar sein sollten?
Ohly: Da kann ich mir kein Urteil erlauben. Es hängt von den innerbetrieblichen Abläufen ab. Es hängt auch davon ab, ob das Unternehmen Geschäfte in anderen Zeitzonen tätigt und daher das Management auch zu ungewöhnlichen Zeiten erreichbar sein muss.
Was hält die Arbeitspsychologie vom Homeoffice? Entlastet es oder macht es dem Mitarbeiter nur noch mehr Stress?
Ohly: Homeoffice an sich ist ein guter Ansatz zur Flexibilisierung der Arbeitszeit. Es reduziert etwa die Zeiten des Pendelns. Andererseits muss klar dokumentiert werden, was ist zu Hause Arbeitszeit, was ist Freizeit. Freizeit und Arbeitszeit dürfen nicht miteinander verschwimmen.
Wie definieren Sie Stress?
Ohly: Stress ist ein unangenehm erlebter Spannungszustand. Er kann sich aus mehreren Quellen speisen. Sei es, dass man unter Hochdruck arbeiten muss und keine Zeit hat, Pausen zu machen. Sei es, dass man in gewerblichen Tätigkeiten unangenehme Körperhaltungen einnehmen muss, um die Maschine zu bedienen. Oder, dass man ständig die gleichen Arm- und Handbewegungen machen muss. Auch überlange Arbeitszeiten können dazu führen, dass man diesen unangenehmen Spannungszustand erlebt. Daher ist eine klare Arbeitszeitregelung notwendig. Im Hinblick auf die Gestaltung der Arbeit muss klar sein, dass sie einerseits ausführbar, aber auch bewältigbar ist. Menschen haben ihre Grenzen körperlicher, aber auch geistiger Art. Sie können eben nicht rund um die Uhr mit 100 Prozent zur Verfügung stehen.
Ist Stress immer negativ?
Ohly: Es gibt auch positive Wirkungen von Stress. Etwa, dass Menschen unter einem leichten Zeitdruck umso effizienter arbeiten. Manche brauchen Zeitdruck oder eine Deadline, um motivierter an die Arbeit zu gehen. Aber: Selbst wer durch Zeitdruck motiviert wird, ist hinterher erschöpft.
Gibt es nicht auch Menschen, die Zufriedenheit, ja Glück aus einer herausfordernden , spannenden Tätigkeit im Job ziehen?
Ohly: Auf alle Fälle. Menschen sind glücklich, wenn sie ihre Aufgaben gut erfüllen. Dies ist der Grund, warum viele Menschen gern und auch lange arbeiten und sich schwierigen Aufgaben stellen.
Stress wird von jedem anders erlebt, oder gibt es ein objektives Kriterium, um Stress zu messen?
Ohly: Menschen gehen anders mit Stress um. Das gleiche Maß an Zeitdruck ist für den einen belastend, für den anderen nicht. Wer seinen Job gut kann, kann leichter die ihm gestellten Aufgaben erfüllen. Es kommt auch auf Selbstmanagementfähigkeiten an: Wer ein gutes Zeitmanagement hat, sich unter Stress gut konzentrieren kann oder von sich überzeugt ist, hat es leichter.
Was löst zu viel Stress im körperlichen und seelischen Wohlbefinden aus?
Ohly: Dokumentierte Stressfolgen sind erhöhter Blutdruck, erhöhte Hormonausschüttung, Ermüdung, Unwohlsein, innere Unruhe, Nervosität, Ärger und Frustrationserleben. Langfristig Stress kann zu handfesten Erkrankungen wie Alkoholmissbrauch oder Burn-out führen. Auch psychosomatische Erkrankungen von Magen- und Darmbereich, Herz und Kreislauf werden mit Stress in Verbindung gebracht.
Welchen Einfluss hat zu viel Stress auf die Arbeitskraft?
Ohly: Das ist für Arbeitgeber interessant: Arbeitnehmer, die ständig unter Stress stehen, vollziehen häufig die innere Kündigung. Sie resignieren, machen nur noch Dienst nach Vorschrift, sind nicht mehr bereit, sich anzustrengen.
Zur Person
Sandra Ohly, 1976 geboren, machte 1994 Abitur und studierte 1995 bis 2001 Psychologie an der Universität Konstanz. 2005 Promotion im Fach, 2010 Habilitation an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit 2010 ist Ohly Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Universität Kassel, stellvertretende Sprecherin der Arbeitsgruppe für Wirtschafts- und Arbeitspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGP).