Beim Torwart verpokert - die Psychologie eines langweiligen Halbfinales
10.07.2014
Was sind 120 Minuten Niederlande gegen Argentinien im WM-Halbfinale 2014? - 120 Minuten verschenkte Minuten Lebenszeit. Und doch bleibt am Ende die Erkenntnis, dass ein General am Reißbrett noch keinen Weltmeister macht. Und das ist verdammt gut so.
Von Björn-Christian Schüßler
Man sagt gemeinhin, wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Das Halbfinale der Niederlande gegen Argentinien hat eine neue Dimension dieses Sprichwortes ausgemacht. Denn wenn sich zwei nicht so richtig streiten, langweilt das den Dritten. Es ist völlig unbegreiflich, dass die Fachwelt über das Vorrundenspiel Nigeria gegen Iran aufgrund der Schwächen der Teams nur vernichtende Worte zur Spielqualität gefunden hatten. Denn eines kann man den beiden Teams nicht vorwerfen - dass sie nicht gewollt hätten.
Argentinien feiert, Niederlande-Keeper Jasper Cillessen hat es verbockt. Foto: dpa
Doch genau diesen Vorwurf müssen sich nun die ach so hoch gehandelten Mannschaften in Oranje und Blau-weiß-gestreift gefallen lassen. Auf der einen Seite - wenn auch gut organisierter - Vernichtungsfußball mit der Hoffnung, eine Spitze und ein Weltstar werden schon einen genialen Moment finden. Auf der anderen Seite Sicherheitsfußball hintenrum. Die Beleidigung Käsewürste träfe die Niederländer - mit Ausnahme von Robben, der sich zumindest 90 Minuten arg bemühte, aktiv auszusehen - nicht völlig zu unrecht.
Keinen Sieger verdient
Eigentlich, und da waren sich Fußball-Liebhaber, Brasilianer und irgendwie auch alle anderen rasch einig, hatte dieses grottenschlechte Halbfinale keinen Sieger verdient. Zum einen, weil sich keiner so richtig um den Sieg bemühte, zum anderen, weil es auch einfach keinen Helden gab, der sich mal einen Ruck gab, aus dem taktischen Korsett auszubüxen. Aber irgendwer muss ja am Sonntag gegen Deutschland antreten und gottlob hat der Fußballgott für so viel Passivität das Elfmeterschießen erfunden. Schade, dass nicht England im Halbfinale stand - die Engländer hätten um jeden Preis 120 Minuten lang aus allen Lagen geschossen, um so zumindest eine Chance zu haben, aber so...
Elfmeterschießen. Und plötzlich gratulierte Argentinien-Coach Sabella seinem Kontrahenten zum Sieg an der Taktiktafel gegen Costa Rica. Denn endlich hatte einer das Taktikkorsett des Halbfinals gesprengt. Van Gaal hatte im Viertelfinale den vielleicht entscheidenden Fehler gemacht, der leider im Fußball-Alltag vielerorts zu beobachten ist: Kurzfristiger Erfolg steht über allem. Seine Nummer eins Cillessen vor dem Elfmeterschießen gegen die Ticos zu rasieren und gegen Tim Krul auszutauschen, war kurzfristig ein lobenswerter Schachzug. Hervorragend, Herr General van Gaal. Aber der Psychologe in Ihnen hätte wissen müssen, dass Sie gegen Argentinien am Ende kurz vor Schluss nicht mehr wechseln werden können.
Psychologisch zerlegt
Und so war Jasper Cillessen angezählt, noch bevor er überhaupt den ersten Ball aus elf Metern auf sich zuschießen sah. Zweimal in der richtigen Ecke, zweimal sogar dran, aber wie Entschlossenheit beim Elferhalten aussieht, bekam Cillessen nicht von seinem Schachmeister auf der Taktiktafel vermittelt, sondern im direkten Anschauungsunterricht von Albiceleste-Keeper Romero vorgeführt. Und eigentlich wollte Cillessen ja auch gar nicht. "Der Chef hat mich gegen Costa Rica zur Elfer-Nummer zwei degradiert. Dann muss er es jetzt auch ertragen, dass ich lieber gegen Brasilien um die goldene Ananas spielen möchte als ihm zu helfen, sich ein Taktik-Denkmal zu bauen", wird sich der 25-Jährige gedacht haben. Und so hat er auch (nicht) gehalten.
ARD-Experte Mehmet Scholl hat es schließlich klar auf den Punkt gebracht: Es ging nicht um den Titel, die Spieler, die Nationalmannschaft, sondern um Allmachtsfantasien des Trainers. Und über genau diesen großen Schatten, den van Gaal werfen wollte, ist er selbst gestolpert. Kein Wunder also, dass ebendieser General nun ein Spiel um Platz drei unwürdig und völlig nutzlos findet. Das sehe ich nicht so, denn Brasilien sollte Gelegenheit bekommen, unserem Nachbarland für so viel Arroganz und Arbeitsverweigerung im Halbfinale eine zweite Niederlage zuzufügen. Am besten mit 7:1.
Weltmeister ohne weltmeisterliche Momente?
Nutznießer dieser Stolperei im zweiten Halbfinale ist also Argentinien, das bislang bei diesem Turnier noch kein Spiel mit dem Prädikat weltmeisterwürdig abgeliefert hat. Acht Tore, davon ein Eigentor des bosnischen Schalkers Kolasinac, in der regulären Spielzeit reichen 2014 für den Finaleinzug. Magerkost. Abwehrschlacht, bestens organisiert, aber das Beste, was die Welt zu bieten hat?
Wo sind die genialen Momente eines Messi, der offensichtlich nur gegen den Iran glänzen kann und ohne di Maria nur die Hälfte wert ist? Wo die überfallartigen Angriffe, für die Argentinien in der Qualifikation zu dieser WM berüchtigt war? Wo der Spiel-Esprit mit Pässen in die Spitze? Wo die Leidenschaft? Einzig Torwart Romero, der im Vorfeld der WM als Fliegenfänger und Schwachstelle belächelt wurde, wuchs gegen die Niederlande ein wenig über sich hinaus. Elfmetertöter Romero wirft nun selbst einen langen Schatten. Möglich, dass er ausgerechnet im Finale darüber stolpert.