Eine Hebamme führt ein in Salzwasser getränktes Gazestück in die Vagina einer Kaiserschnitt-Patientin ein. Eine Stunde später – wenige Minuten vor der Operation – zieht sie die Gaze wieder heraus und gibt sie in einen kleinen sterilen Behälter. Kaum hat der kleine Junge das Licht der Welt erblickt, zieht sie ihm die Gaze durch den Mund, über das Gesicht und schliesslich über den ganzen Körper.
Was sich gewöhnungsbedürftig anhört, hat einen einfachen Zweck. Mit der Massnahme sollen bei einem Kaiserschnitt die Mikroorganismen der Mutter auf das Kind übertragen werden. Während natürlich geborene Babys im Geburtskanal stundenlang mit den Vaginal- und Darmbakterien der Mutter eingerieben werden, umgehen Kaiserschnitt-Geborene diesen Prozess. Ihr Darm wird zwar ebenfalls besiedelt – jedoch mit den Keimen, die sich gerade im Kreisssaal tummeln, Hautbakterien des Personals etwa.
Wirkung noch ungewiss
Das Mikrobiom des Neugeborenen – die Gesamtheit seiner Mikroorganismen also – prägt seinen Stoffwechsel und sein Immunsystem und scheint zentral für seine langfristige Gesundheit. Kaiserschnitt-Geborene zeigen beispielsweise ein erhöhtes Risiko für entzündliche Darmerkrankungen, Asthma, Allergien, Übergewicht und Diabetes Typ 1. Allerdings fehlt bisher der Beweis, dass das veränderte Mikrobiom zum Auftreten dieser Erkrankungen beiträgt. Das Universitätsspital Genf plant eine Studie mit 3000 Babys, um solche Zusammenhänge zu erforschen. Inzwischen gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass die ganz kleinen Bewohner unseres Körpers für die ganz grossen Erkrankungen unserer Zeit mitverantwortlich sind.
Bereits heute setzen Mütter in den USA und Australien auf das Seeding – so wird die Übertragung der Vaginalbakterien bei Kaiserschnitt genannt. Auch in der Schweiz ist ein Interesse vorhanden. «Wir haben das Seeding auf Wunsch von Patientinnen bereits vereinzelt durchgeführt», berichtet Roland Zimmermann, Direktor der Klinik für Geburtshilfe am Universitätsspital Zürich. Aktiv anbieten würde er die Praxis jedoch auf keinen Fall: «Es gibt keine Studien, die zeigen, dass das Seeding etwas bringt – und nicht etwa schadet.»
Am Kantonsspital Nidwalden hat man nicht auf diese Studien gewartet. Hier wird das Seeding allen Kaiserschnitt-Patientinnen seit mehreren Jahren aktiv angeboten. «Es ist nicht erkennbar, warum die Nachbildung der natürlichen Geburt schädlich sein soll», verteidigt Thomas Prätz die Praxis. Er ist Chefarzt Gynäkologie und Geburtshilfe. «Selbst wenn sich der Zusammenhang zwischen einer veränderten Darmbesiedelung und verschiedenen Erkrankungen nicht erhärten sollte, so haben wir zumindest niemandem geschadet», ist er sich sicher. Das Interesse der Schwangeren sei sehr hoch – auch überregional.
Zum Konzept in Nidwalden gehören neben dem Seeding zwei weitere Schritte: Das Baby wird nach der Geburt unmittelbar an die Brust gelegt, damit es mit den Hautbakterien der Mutter in Kontakt kommt und Kolostrum trinken kann. Diese erste Milch ist besonders reich an Abwehrstoffen. Zudem sollen die Mütter über mindestens sechs bis neun Monate stillen. In der Muttermilch befinden sich Oligosaccharide – wertvolle Nahrung für die Darmbakterien. Und sie enthält sogar mütterliche Darmbakterien, wie eine Studie des Kinderspitals Zürich und der ETH Zürich jüngst zeigte. «Wir gehen davon aus, dass Kaiserschnitt-Babys mit dieser Dreierempfehlung ein weitgehend normales Mikrobiom aufbauen können», sagt Prätz.
Hygienebedenken
Bei seinen Fachkollegen stösst der Ansatz nicht auf «ungeteilte Begeisterung», wie Prätz es vorsichtig formuliert. Auch in seinem eigenen Team brauchte es einiges an Überzeugungsarbeit, bis alle an einem Strick zogen. «Unsere Hebammen und Ärzte sorgten sich beim Seeding zunächst um die Hygiene und befürchteten die Übertragung von gefährlichen Keimen.» Doch einerseits finde dieser Prozess bei einer normalen Geburt ja auch statt. Andererseits werde das Vaginalsekret routinemässig auf Krankheitserreger getestet, die für das Kind gefährlich sein könnten.
Nun erhält Prätz Rückenwind aus den USA: In einer Pilotstudie wurde untersucht, ob durch das Seeding das Mikrobiom der Mutter tatsächlich im Darm des Babys angesiedelt wird. «Das Mikrobiom der Babys mit Seeding ähnelt jenem von natürlich geborenen Babys stärker als demjenigen von Kaiserschnitt-Geborenen», sagt die Mikrobiologin Maria Dominguez-Bello vom NYU Langone Medical Center in New York, Autorin der Studie. Babys mit Seeding hatten beispielsweise Laktobazillen und Bacteroides, die bei Kaiserschnitt-Babys praktisch nicht vorhanden waren. Die Studienergebnisse sind soeben in der Fachzeitschrift «Nature Medicine» publiziert worden.
In einer Nachfolgestudie prüfen Dominguez-Bello und ihr Team den Effekt des Seedings bei 84 Babys. Selbst nach einem Jahr könne sie anhand des Mikrobioms ziemlich genau sagen, welches Baby wie geboren wurde, sagt die Mikrobiologin. Um den Schutz vor Asthma oder Allergien zu prüfen, sei allerdings eine drei- bis fünfjährige Studie mit ungefähr 1200 Babys nötig.
«Diese Pilotstudie hat eine grosse Bedeutung», erklärt Jacques Schrenzel, Experte für Mikrobiologie und Infektionskrankheiten am Universitätsspital Genf. Die Untersuchung beweise, dass die Bakterienübertragung tatsächlich funktioniere. Weitere Studien müssten nun zeigen, ob diese Babys auch längerfristig von der Massnahme profitierten.
Bis diese Beweise erbracht sind, könnten jedoch Jahre oder gar Jahrzehnte verstreichen. Solange würde Schrenzel nicht zuwarten: «Erweist sich das Seeding irgendwann als vorteilhaft, würden uns die Eltern eine verpasste Chance vorwerfen.» Der Arzt rechnet aufgrund der aktuellen Medienberichte zum Seeding mit vermehrten Anfragen am Unispital Genf, wo jährlich über 4000 Babys geboren werden. «Nun müssen wir festlegen, wie wir mit solchen Anfragen umgehen.»
(DerBund.ch/Newsnet)
(Erstellt: 04.02.2016, 18:52 Uhr)