Angst: Was uns zittern lässt

1. Angst ist eine Typfrage

Angst ist überlebenswichtig, sie schützt Menschen davor, sich in gefährliche Situationen zu begeben. Doch was ist "gefährlich"? Das empfindet jeder anders. So hat mancher nach den Terroranschlägen in Istanbul Angst, dorthin zu reisen. Ein anderer kommt nicht auf die Idee, seinen Flug zu stornieren. Angst sei gewissermaßen eine Typfrage, sagen Psychologen. Im Gehirn gibt es zwei verschiedene Systeme, die bedrohliche Ereignisse verarbeiten: ein rationales und ein emotionales. Menschen, die überwiegend rational an Dinge herangehen, reagieren eher ruhiger. Wie empfänglich jemand für Angst ist, ist zudem genetisch bedingt. Forscher gehen bislang von 30 bis 100 Genen aus, die beeinflussen, wie intensiv und lange Menschen eine vermeintliche Bedrohung wahrnehmen – und wie gut sie diese verarbeiten. Und noch ein dritter Faktor hat großen Einfluss: das soziale Umfeld. "Die Gesellschaft bestimmt mit, wovor wir uns fürchten", sagt der Risikoforscher und Psychologe Gerd Gigerenzer.

2. Angst ist ansteckend

Der Dumme lernt aus seinen eigenen Fehlern, der Kluge aus den Fehlern anderer – dieses Prinzip hat sich in der Evolution als vorteilhaft erwiesen. Das Lernen aus persönlicher Erfahrung ist schließlich mit Gefahr verbunden, womöglich fürs eigene Leben. Deshalb verzichten wir möglichst darauf und fürchten einfach, was andere fürchten. Man könnte auch sagen: Angst ist ansteckend. Das kann nur dazu führen, dass wir uns vor den falschen Dingen ängstigen. Dies ist trotzdem oft weniger gefährlich, als eine tödliche Gefahr zu übersehen. Deshalb ist die Angst aus zweiter Hand so mächtig.

3. Angst wächst, wenn eine neue Gefahr entsteht

Unbekanntes löst rasch Hysterie aus. Beispiel BSE: Als der erste Fall bekannt wurde, dauerte es nur wenige Wochen, bis kaum jemand mehr Rindfleisch kaufen wollte. Innerhalb von zehn Jahren starben in Europa 150 Menschen an den Folgen der Krankheit. Genauso viele Menschen wurden Opfer einer Gefahr, die nie in den Schlagzeilen auftauchte: 150 Kinder starben, weil sie parfümiertes Lampenöl getrunken hatten. Es dauerte zehn Jahre, bis die Ölflaschen einen Sicherheitsverschluss bekamen.

4. Angst ist umso größer, je mehr Menschen auf einen Schlag getroffen werden

Im vergangenen Jahr kamen bei Verkehrsunfällen in Deutschland etwa 3500 Menschen ums Leben. Würden sie alle an einem einzigen Tag sterben – wir würden sofort mit dem Autofahren aufhören, sagt der Risikoforscher Ortwin Renn. Risiken, die kontinuierlich und über einen längeren Zeitraum verteilt auftreten, unterschätzen wir; solche, die zu einem Zeitpunkt viele Menschen auf einmal treffen, lösen einen Aufschrei aus. Das spielt auch bei der Reaktion auf die Ereignisse der Silvesternacht eine Rolle: Es wurden viele Frauen von noch mehr Männern gleichzeitig angegriffen.

5. Angst entsteht, wenn Risiken verschwiegen werden


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Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 5 vom 28.1.2016.

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Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 5 vom 28.1.2016.

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Sprich offen über Ungewissheit, stelle Vergleiche mit bekannten Risiken an und erkläre, was getan werden kann: Diese Schritte empfiehlt der Psychologe Gerd Gigerenzer für die Risikokommunikation. Anders als Politiker oft vermuteten, mache die Erklärung von Risiken Menschen nicht ängstlicher. Verweigert man ihnen Antworten, wie es Innenminister Thomas de Maizière nach der Absage des Fußballländerspiels im November tat ("Ein Teil dieser Antworten könnte die Bevölkerung verunsichern"), trägt man dagegen zur Verunsicherung bei.

6. Angst wächst aber auch, wenn alle die Gefahr beschwören (vorneweg die Medien)

Der Ökonom Walter Krämer beobachtet folgende Parallelität: Deutsche sind ängstlicher als die Menschen in vielen Nachbarstaaten. Und deutsche Medien berichteten viel häufiger über Risiken wie BSE, Schweinegrippe und Asbestverseuchung. Im Vergleich zu spanischen und französischen Zeitungen doppelt so oft. "Medien steuern unsere Ängste", sagt Psychologe Gigerenzer. "Die meisten von uns haben die schrecklichen Ereignisse, über die berichtet wird, nie erlebt. Wenn die Zeitungen nur auf den hinteren Seiten über einen Terroranschlag berichten würden, hätten die Menschen weniger Angst."

7. Angst vor dem Abstieg nimmt zu mit der Angst vor Fremden

Menschen, die ohnehin nicht zu den sozialen Gewinnern gehören, haben eher Angst vor Flüchtlingen. Offenbar fürchten sie, dass ihre Chancen durch die Fremden weiter schrumpfen. Das zeigt eine Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung.

8. Angst bekommen auch die, die ganz weit weg von der Gefahr sind

In Sachsen ist die Zahl der Flüchtlinge eher klein, die Angst vor ihnen aber groß. "Das liegt daran, dass die Menschen dort kaum eigene Erfahrungen mit den Fremden haben und nur wissen, was sie lesen oder hören", sagt Psychologe Gigerenzer. "Das fühlt sich dann so an, als wäre alles möglich." Als Gegenmittel empfiehlt er, auf die Menschen zuzugehen.

9. Angst schrumpft mit der Zeit

"Das Sicherheitsempfinden der Deutschen ist nicht grundlegend erschüttert", sagt Gigerenzer. Vielmehr folge auch die aktuelle Angst einem alten Schema: "Angst kommt in Wellen." Griechenland – schon vergessen; Finanzkrise – kaum noch zu spüren. "All das war auf den Titelseiten und hat uns in Aufruhr versetzt", sagt Gigerenzer. Nach wenigen Monaten aber sei noch jedes Mal Ruhe eingekehrt.

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