1930: Die Psychologie ist ein Stock mit zwei Enden

[14. Dezember 1930] In seiner Besprechung des psychiatrischen Gutachtens der Innsbrucker medizinischen Fakultät, das für die Verurteilung Philipp Halsmanns entscheidend war, hat Professor Josef Hupka („Neue Freie Presse" vom 29. und 30. November) auch gegen die unmotivierte Hereinziehung der psychoanalytischen Kategorien „Ödipuskomplex" und „Verdrängungsmechanismus" Stellung genommen, aber für die wissenschaftliche Kritik dieser Erörterungen an das Urteil der berufenen Fachleute appelliert. Diesem Appell ist nun erfreulicherweise der Berufenste gefolgt. Wir veröffentlichen im Folgenden eine Äußerung Professor Freuds.

Der Ödipuskomplex ist, soweit wir wissen, in der Kindheit in allen Menschen vorhanden gewesen, hat in den Entwicklungsjahren große Veränderungen erfahren und wird bei vielen Individuen in wechselnder Stärke auch in reifen Zeiten gefunden. Seine wesentlichen Charaktere, seine Allgemeinheit, sein Inhalt, sein Schicksal wurden, lange vor der Zeit der Psychoanalyse, von einem scharfsinnigen Denker wie Diderot erkannt, wie eine Stelle seines berühmten Romans „Le Neveu de Rameau" beweist. In Goethes Übersetzung dieser Schrift steht zu lesen: „Wäre der kleine Wilde sich selbst überlassen und bewahrte seine ganze Schwäche (imbécillité), vereinigte mit der geringen Vernunft des Kindes in der Wiege die Gewalt der Leidenschaften des Mannes von 30 Jahren, so bräch' er seinem Vater den Hals und entehrte seine Mutter."

Das Werkzeug für Ehebruch bei sich . . .

Wäre es objektiv erwiesen, dass Philipp Halsmann seinen Vater erschlagen hat, so hätte man allerdings ein Anrecht, den Ödipuskomplex heranzuziehen, zur Motivierung einer sonst unverstandenen Tat. Da ein solcher Beweis nicht erbracht worden ist, wirkt die Erwähnung des Ödipuskomplexes irreführend, sie ist zum Mindesten müßig. Was die Untersuchung an Unstimmigkeiten zwischen Vater und Sohn in der Familie Halsmann aufgedeckt hat, ist durchaus unzureichend, um die Annahme eines schlechten Vaterverhältnisses beim Sohne zu begründen. Wäre es selbst anders, so müsste man sagen, von da bis zur Verursachung einer solchen Tat ist ein weiter Weg. Gerade wegen seiner Allgemeinheit eignet sich der Ödipuskomplex nicht zu einem Schluss auf die Täterschaft. Man würde leicht die Situation herstellen, die in einer bekannten Anekdote angenommen wird: Ein Mann wird als Täter verurteilt, in dessen Besitz ein Dietrich gefunden wurde. Nach der Urteilsverkündung befragt, ob er etwas zu bemerken habe, verlangt er, auch wegen Ehebruchs bestraft zu werden, denn das Werkzeug dazu habe er auch bei sich.
In dem großartigen Roman Dostojewskis „Die Brüder Karamasow" steht die Ödipus-Situation im Mittelpunkt des Interesses. Der alte Karamasow hat sich bei seinen Söhnen durch lieblose Unterdrückung verhasst gemacht; für den einen ist er überdies der mächtige Rivale bei dem begehrten Weibe. Dieser Sohn Dmitrij hat aus seiner Absicht, sich am Vater gewaltsam zu rächen, kein Geheimnis gemacht. Es ist darum natürlich, dass er nach der Ermordung und Beraubung des Vaters als sein Mörder angeklagt und trotz aller Beteuerungen seiner Unschuld verurteilt wird. Und doch ist Dmitrij unschuldig; ein anderer der Brüder hat die Tat verübt. In der Gerichtsszene dieses Romans fällt der berühmt gewordene Ausspruch: Die Psychologie sei ein Stock mit zwei Enden. Das Gutachten der Innsbrucker Fakultät scheint geneigt, Philipp Halsmann einen „wirksamen" Ödipuskomplex zuzuschreiben, verzichtet aber darauf, das Ausmaß dieser Wirksamkeit zu bestimmen, weil unter dem Druck der Anklage die Voraussetzungen für „eine rückhaltlose Ausschließung" bei Halsmann nicht gegeben sind. Wenn sie es dann ablehnt, auch im „Falle der Täterschaft des Angeklagten die Wurzel der Tat in einem Ödipuskomplex zu suchen", so geht sie ohne Nötigung in der Verleugnung zu weit.
In demselben Gutachten stößt man auf einen durchaus nicht bedeutungslosen Widerspruch. Der mögliche Einfluss der Gemütserschütterung auf die Gedächtnisstörung für Eindrücke vor und während der kritischen Zeit wird auf das Äußerste eingeschränkt, nach meinem Urteil nicht mit Recht; die Annahmen eines Ausnahmezustandes oder einer seelischen Erkrankung werden entschieden zurückgewiesen, aber die Erklärung durch eine „Verdrängung", die nach der Tat bei Philipp Hausmann eintrat, bereitwillig zugestanden. Ich muss sagen, eine solche Verdrängung aus heiterem Himmel bei einem Erwachsenen, der keine Anzeichen einer schweren Neurose bietet, die Verdrängung einer Handlung, die gewiss bedeutsamer wäre als alle strittigen Einzelheiten von Entfernung und Zeitablauf, und die im Normalen oder nur durch körperliche Ermüdung veränderten Zustand vor sich geht, wäre doch eine Seltenheit erster Ordnung.

Sigmund Freud, geb. 1856 in Mähren, gest. 1939 in London, schuf die Psychoanalyse.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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